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Mittwoch, 18. Februar 2015

Koffer-Heule



Chemnitz: das Schöne an Chemnitz ist, daß hier, anders als in Dresden oder Leipzig, niemand die Wiederherstellung eines vorsozialistischen Urzustands fordert, weil niemand ein Bild davon hat, wie die Stadt "eigentlich" aussehen muß. Ich habe nirgends so viele, wundervolle, leere Fabrikgebäude gesehen, vielleicht wird Chemnitz mal das neue Leipzig, obwohl ich das ja schon von Halle dachte. Es gibt hier besonders viel Kunst im öffentlichen Raum, oder es wurde besonders wenig zerstört. Auf der Straße der Nationen steht diese Plastik von Johann Belz, sie heißt "Jugendbrunnen" und wurde 1965 zur 800-Jahrfeier der Stadt aufgestellt. Zur Zeit gibt es ja so einen Trend zu hyperrealistischen Kitsch-Plastiken, hier kann man sehen, daß Figürlichkeit auch in der Plastik funktionieren kann. Ich habe das Werk schon öfter fotografiert, weil mir das Kofferradio so gefällt, das der junge Mann um den Hals trägt. So schnell altern die Attribute des Fortschritts! Was ich gar nicht wußte, daß der Künstler Ärger bekommen hat, weil er hier angeblich Halbstarken ein Denkmal gesetzt hat. Diese, nach heutigen Maßstäben, sittsamen Jugendlichen, tragen nämlich Röhren- und Caprihosen, die "Heule" (hieß das wirklich jemals so?) spricht für sich, und der Junge hat eine Sonnenbrille und eine provokative Brechtfrisur (Verweigerung des Scheitels). Mithin ein schlimmer Finger. Die Mädchen scheinen aber auf ihn zu stehen, so ist das nunmal. Der Künstler hat sich 1976 in seinem Atelier erhängt, wie mir gesagt wurde, weil ihn die Arbeit an einem Auftragswerk über den Sieg der Arbeiterklasse in Depressionen gestürzt hat.

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