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Donnerstag, 26. März 2015

Türklinken und Gotano






In der Bibliothek von Gotha eine Lesung. Anschließend sollen wir das Ausleihexemplar von "Drüben und drüben" signieren. Ob ich reinschreiben soll: "Aber bitte keine Randglossen"? Ob den Witz noch wer versteht? Die Mitarbeiter sind rührend bemüht, es ist voll, die Stimmung ist gut, aber ich frage mich bei solchen neuen Nachwenderäumen immer, wie man Licht und Inneneinrichtung so herzlos planen kann. Alleine der graue, gesprenkelte PVC-Fußboden deprimiert mich zutiefst. Gerade eine Bibliothek sollte doch ganz anders aussehen. Sicher gehe ich deshalb nicht gerne in öffentliche Bibliotheken. Das gleiche kann man aber auch über die meisten Arztpraxen sagen. Auf dem Rückweg kommen wir am Kulturhaus vorbei, und ich husche schnell rein, um das Foyer zu sehen, über der Treppe gibt es bunte Bleiglasscheiben, die Heizung hat eine schöne Metallverkleidung, als Deckenleuchten dienen Preßglaslampen, die aber in dieser Fülle etwas Prächtiges haben. Im großen Saal steht sogar eine Orgel. Ich erfahre, daß das ehemalige Kulturhaus "Johannes R. Becher" eine Art Trost für das in den 50ern völlig unnötigerweise abgerissene Theater war, das genau gegenüber stand. Am nächsten Tag lande ich im Antiquariat "Hannah Hoech", angelockt von DDR-Postkarten im Ständer. Ein interessantes Plattenbau-FDGB-Heim "August Bebel" in Friedrichroda, ob das noch steht? Eine alte Karte mit Ansichten von Gotha, kein Mensch ist darauf zu sehen, aber Plattenbauten vom Neubaugebiet Gotha-West und ein ziemlich kahles "Hochhaus am Leninplatz", auf so etwas war man damals stolz. Das sei die "Wermutsäule" gewesen, weil oben Werbung für den Gothaer Wermut stand, erfahre ich. "GOTANO", fällt mir wieder ein. Ein Eintrag in der langen Liste von Likören und Schnäpsen, die es damals gab, das reichhaltigste Regal in der Kaufhalle, eine Art Heimatkunde in Alkohol. Die Lizenz für diese nachgedruckten Karten habe er teuer von "Bild und Heimat Reichenbach" erworben. Die Karte ist 1987 vom Eulenspiegel-Verlag zur "Nullexpressivste Postkarte des Jahres 1987" gewählt worden. Gerade die ist mir aber aufgefallen. An der Stelle vom Hochhaus ist im Geburtsjahr des Buchhändlers das Theater abgerissen worden, sagt er mit bitterem Unterton. Dafür wurde dann zum Trost oder zum Hohn das Kulturhaus gebaut. Und wo das Hochhaus stand, gibt es inzwischen ein häßliches Textilkaufhaus, muß man ergänzen, als Geschenk der deutschen Einheit. Ich kaufe ein sowjetisches Bilderbuch mit Geschichten aus dem Wald. Es gibt auch ein Dutzend herrlich illustrierter Bände mit Märchen aus aller Welt, die haben meine Eltern auch gesammelt, und ich habe sie mißachtet, weil ich nur "Tim und Struppi" lesen wollte. "Das Kind und seine Umwelt", VEB Verlag Volk und Gesundheit Berlin, 1975 für 1 Euro. Ich kaufe jetzt manchmal Bücher von damals über Säuglingspflege und Kindererziehung, um zu erfahren, wie ich erzogen worden bin. In einer Tabelle "Bitte vergleichen Sie!" hat der Vorbesitzer unter "Freier Raum für Notizen über Ihre Beobachtungen und für Fotos" Notizen zu seinem Kind eingetragen. "9 Monate: sagte allein 'a, a' und war bei Groß sauber (Aufenthalt bei Oma)". Da hat die Oma wohl das Trockenwerden vorangetrieben. "1 Jahr: Rückkehr nach Dresden, Rückfall, sagt nicht vorher 'a, a' manchmal macht er Groß ein." 1 Jahr ist natürlich ziemlich früh für solche Ansprüche. "1 Jahr 4 Monate: hilft schon bei kleinen Arbeiten im Haushalt (Aufwischen, Einstapeln von Kohle, Wäsche)". Bei uns haben die Kleinkinder also schon mit 16 Monaten Kohlen gestapelt? Das paßt natürlich ins Bild. Der Buchhändler legt Nick Cave auf, ich sehe, daß der Name der Buchhandlung nicht zufällig gewählt ist, es gibt ein ganzes Regal mit Dada und Hannah Hoech. Ein Kunde kommt herein, man kennt sich mit Namen. Das Regal Reiseberichte aus Afrika, eine heimliche Leidenschaft? Wie lange wird es solche Orte des Trosts noch geben?
In einem Oma-Café esse ich Oma-Pflaumenkuchen und sinniere über diesen äußerst resistenten Spitzendeckchengeschmack in Altrosa. Das Schlimme ist, daß der, wenn er ausstirbt, durch Cindy-aus-Marzahn-Ästhetik ersetzt wird. Das Café ist nach der Wende auf schick renoviert worden und sieht aus wie ein Möbel-Höffner-Vorführraum. Aber auf der Toilette finde ich einen verräterischen schwarzen Türgriff. Hat den auch Wolfgang Dyroff gestaltet? Dieser Gestalter hat unser Leben mitbestimmt, er hat die multimax-Bohrmaschine, den Omega-Staubsauger, den Trabant-Türgriff, die Schlüssel zu den Hellerau-Schränken meiner Eltern (die mein Vater immer verzweifelt vor dem Verschwinden retten wollte) und vor allem das "System 80" gestaltet, die Lichtschalter und Steckdosen, die jeder aus den Neubauwohnungen kennt, die man aber immer noch überall im Land sieht. Am Abend schlafe ich in Probstzella im "Haus des Volkes", einem Bauhaushotel. Dort sind die Türgriffe von Walter Gropius. Wem fällt die Ähnlichkeit auf? Ich bin ja der Meinung, wer jeden Tag eine gut gestaltete Türklinke berührt, wird automatisch ein besserer Mensch. Form ist Ethik. Man sollte also seine Kinder in Gotha auf die Toilette dieses Cafés schicken (wenn sie schon trocken sind.) Oder eben Kohlen stapeln lassen.

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