In der
Bibliothek von Gotha eine Lesung. Anschließend sollen wir das
Ausleihexemplar von "Drüben und drüben" signieren. Ob ich
reinschreiben soll: "Aber bitte keine Randglossen"? Ob den
Witz noch wer versteht? Die Mitarbeiter sind rührend bemüht, es ist
voll, die Stimmung ist gut, aber ich frage mich bei solchen neuen Nachwenderäumen immer,
wie man Licht und Inneneinrichtung so herzlos planen kann. Alleine
der graue, gesprenkelte PVC-Fußboden deprimiert mich zutiefst. Gerade
eine Bibliothek sollte doch ganz anders aussehen. Sicher gehe ich
deshalb nicht gerne in öffentliche Bibliotheken. Das gleiche kann
man aber auch über die meisten Arztpraxen sagen. Auf dem Rückweg
kommen wir am Kulturhaus vorbei, und ich husche schnell rein, um das
Foyer zu sehen, über der Treppe gibt es bunte Bleiglasscheiben, die
Heizung hat eine schöne Metallverkleidung, als Deckenleuchten dienen
Preßglaslampen, die aber in dieser Fülle etwas Prächtiges haben.
Im großen Saal steht sogar eine Orgel. Ich erfahre, daß das
ehemalige Kulturhaus "Johannes R. Becher" eine Art Trost
für das in den 50ern völlig unnötigerweise abgerissene Theater
war, das genau gegenüber stand. Am nächsten Tag lande ich im
Antiquariat "Hannah Hoech", angelockt von DDR-Postkarten im
Ständer. Ein interessantes Plattenbau-FDGB-Heim "August Bebel"
in Friedrichroda, ob das noch steht? Eine alte Karte mit Ansichten
von Gotha, kein Mensch ist darauf zu sehen, aber Plattenbauten vom
Neubaugebiet Gotha-West und ein ziemlich kahles "Hochhaus am
Leninplatz", auf so etwas war man damals stolz. Das sei die
"Wermutsäule" gewesen, weil oben Werbung für den Gothaer
Wermut stand, erfahre ich. "GOTANO", fällt mir wieder ein.
Ein Eintrag in der langen Liste von Likören und Schnäpsen, die es
damals gab, das reichhaltigste Regal in der Kaufhalle, eine Art
Heimatkunde in Alkohol. Die Lizenz für diese nachgedruckten Karten
habe er teuer von "Bild und Heimat Reichenbach" erworben.
Die Karte ist 1987 vom Eulenspiegel-Verlag zur "Nullexpressivste
Postkarte des Jahres 1987" gewählt worden. Gerade die ist mir
aber aufgefallen. An der Stelle vom Hochhaus ist im Geburtsjahr des
Buchhändlers das Theater abgerissen worden, sagt er mit bitterem
Unterton. Dafür wurde dann zum Trost oder zum Hohn das Kulturhaus
gebaut. Und wo das Hochhaus stand, gibt es inzwischen ein häßliches
Textilkaufhaus, muß man ergänzen, als Geschenk der deutschen
Einheit. Ich kaufe ein sowjetisches Bilderbuch mit Geschichten aus
dem Wald. Es gibt auch ein Dutzend herrlich illustrierter Bände mit
Märchen aus aller Welt, die haben meine Eltern auch gesammelt, und
ich habe sie mißachtet, weil ich nur "Tim und Struppi"
lesen wollte. "Das Kind und seine Umwelt", VEB Verlag Volk
und Gesundheit Berlin, 1975 für 1 Euro. Ich kaufe jetzt manchmal
Bücher von damals über Säuglingspflege und Kindererziehung, um zu
erfahren, wie ich erzogen worden bin. In einer Tabelle "Bitte
vergleichen Sie!" hat der Vorbesitzer unter "Freier Raum
für Notizen über Ihre Beobachtungen und für Fotos" Notizen zu
seinem Kind eingetragen. "9 Monate: sagte allein 'a, a' und war
bei Groß sauber (Aufenthalt bei Oma)". Da hat die Oma wohl das
Trockenwerden vorangetrieben. "1 Jahr: Rückkehr nach Dresden,
Rückfall, sagt nicht vorher 'a, a' manchmal macht er Groß ein."
1 Jahr ist natürlich ziemlich früh für solche Ansprüche. "1
Jahr 4 Monate: hilft schon bei kleinen Arbeiten im Haushalt
(Aufwischen, Einstapeln von Kohle, Wäsche)". Bei uns haben die
Kleinkinder also schon mit 16 Monaten Kohlen gestapelt? Das paßt
natürlich ins Bild. Der Buchhändler legt Nick Cave auf, ich sehe,
daß der Name der Buchhandlung nicht zufällig gewählt ist, es gibt
ein ganzes Regal mit Dada und Hannah Hoech. Ein Kunde kommt herein,
man kennt sich mit Namen. Das Regal Reiseberichte aus Afrika, eine
heimliche Leidenschaft? Wie lange wird es solche Orte des Trosts noch
geben?
In
einem Oma-Café esse ich Oma-Pflaumenkuchen und sinniere über diesen
äußerst resistenten Spitzendeckchengeschmack in Altrosa. Das
Schlimme ist, daß der, wenn er ausstirbt, durch
Cindy-aus-Marzahn-Ästhetik ersetzt wird. Das Café ist nach der
Wende auf schick renoviert worden und sieht aus wie ein
Möbel-Höffner-Vorführraum. Aber auf der Toilette finde ich einen
verräterischen schwarzen Türgriff. Hat den auch Wolfgang Dyroff
gestaltet? Dieser Gestalter hat unser Leben mitbestimmt, er hat die
multimax-Bohrmaschine, den Omega-Staubsauger, den Trabant-Türgriff,
die Schlüssel zu den Hellerau-Schränken meiner Eltern (die mein
Vater immer verzweifelt vor dem Verschwinden retten wollte) und vor
allem das "System 80" gestaltet, die Lichtschalter und
Steckdosen, die jeder aus den Neubauwohnungen kennt, die man aber
immer noch überall im Land sieht. Am Abend schlafe ich in
Probstzella im "Haus des Volkes", einem Bauhaushotel. Dort
sind die Türgriffe von Walter Gropius. Wem fällt die Ähnlichkeit
auf? Ich bin ja der Meinung, wer jeden Tag eine gut gestaltete
Türklinke berührt, wird automatisch ein besserer Mensch. Form ist
Ethik. Man sollte also seine Kinder in Gotha auf die Toilette dieses
Cafés schicken (wenn sie schon trocken sind.) Oder eben Kohlen
stapeln lassen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.