Abends
komme ich durch Probstzella, wo früher ein Grenzbahnhof nach
Bayern war. Eigentlich will ich noch zwei Stunden fahren, aber dann
lese ich einen Hinweis auf das "Haus des Volkes" und
erinnere mich, daß ich das vom ICE aus immer gesehen habe, auf der
quälenden Strecke zwischen Jena und Lichtenfels, wenn einem schlecht
ist von der Neigetechnik und der Zug die Berge hochschleicht und schließlich in Probstzella hält. Das
"Haus des Volkes" hat einen großen Garten mit einem
interessanten Ausschank-Kiosk, eine Fläche ist golden
gestrichen, in schönem Gegensatz dazu der DDR-Plastewasserhahn.
RSL2-Leuchten im markanten Bauhaus-Rot-Weiß-Schwarz, auch ein Trafokasten
ist so gestrichen, denn das Haus ist ein "Bauhaus-Hotel".
Es gibt ja im Moment im Land diese Mode, Trafohäuschen mit
hyperrealistischen Kitschmotiven zu tarnen, davon hebt sich das hier
angenehm ab. Wo es eine Kurmuschel gibt, muß ich natürlich
eigentlich übernachten. Ich schleiche in den "Roten Saal"
mit Empore, die Holztreppe zur Bühne knarrt, gleich muß ich meine
Abi-Abschlußrede halten (die hat damals eine Schülerin gehalten,
die mir bis dahin nie aufgefallen war, und als erstes bedankte sie
sich bei den Lehrern, was ich unfaßbar verlogen fand. Seitdem halte
ich manchmal meine eigene Rede, um einschlafen zu können.) Die
Schrift an den Wänden ist überall im Haus einheitlich gestaltet, an
einigen Stellen wurde unter dem Putz die Originalschrift
freigelegt. Es gibt einen "Raum zum Stillen und
Insulinspritzen", ein Hinweis auf unser Demographieproblem. Da
ich heute der einzige Interessent bin, fällt es mir schwer, nicht
eine Nacht zu bleiben. Hoffentlich werde ich nicht wahnsinnig, wenn
das Personal gegangen ist und ich alleine bleibe: "Was du heute kannst besorgen ..."
Sie schließen mir die Räume der Ausstellung über Franz Itting auf,
den Erbauer des Hauses, dessen Schicksal mich an das meines Großvaters erinnert. Weil er als alter SPDler aus der SED
ausgeschlossen worden ist, hatte die Familie spätestens seit 1948
mit der DDR abgeschlossen, nicht erst wegen Biermann, Prager Frühling,
Mauerbau oder 17.Juni. Für meine Eltern ist alles, was danach kam,
nur vor dem Hintergrund des Stalinismus zu verstehen. Tatsächlich
kann man ja einen Zusammenhang zwischen der Erosion der Macht und der
relativen Lockerung in den 80ern im Alltagsleben und dem immer
stärkeren Ausbau des Staatssicherheitsdienstes sehen.
Der
Industriepionier Itting war ein Junge aus einfachen Verhältnissen,
Jahrgang 1875. Er interessiert sich für die aufstrebende Technik
seiner Zeit, die Elektrotechnik. Es geht damals um die
Elektrifizierung des Landes, die paradiesische Zustände bringen und
die Menschen verbinden soll. Schon vor dem Ersten Weltkrieg sorgt er
mit seiner Fabrik für die Elektrifizierung eines großen Gebietes um
Probstzella. Dafür muß er jede Gemeinde persönlich besuchen, einmal schläft
er auf einem Billardtisch, weil das bequemer als das Bett ist. Er muß
die Menschen von der Technik überzeugen. Die Bauern haben Vorbehalte
gegen die Leitungen und Strommasten, die einen fürchten, daß die
Leitungen "atmosphärische Elektrizität aufsaugen" und es
kein Gewitter mehr gebe, die anderen fürchten Unwetter, Erdbeben, Hagel und
Mißernten. (Das erinnert mich an die Aussage eines alten Bauern auf
dem Dorf, die vielen Hochwasser in unseren Tagen kämen "von die Windräder und Asseliten".) Als überzeugter Sozialdemokrat läßt Itting ein
"Haus des Volkes" für den Ort bauen, mit Massageräumen, Kegelbahn,
Festsaal, Turnhalle, Restaurant, Sauna. Vieles davon kann
von den Menschen im Ort umsonst benutzt werden. Und das
Unglaublichste, er will das Haus im modernsten Stil seiner Zeit
errichten und engagiert den 28jährigen Bauhäusler Alfred Arndt, der
die Farbgestaltung und die Architektur des Hauses überarbeitet, der
ursprüngliche Architekt wird abgefunden. So entsteht ein Leuchtturm
in der Provinz, eine Insel für die Seele. Es wird Salat fürs
Restaurant gezogen, mit den Küchenabfällen füttert man die Hühner,
geheizt wird mit Abwärme aus dem E-Werk. Selbst in der Inflation
überlebt der Betrieb ohne Entlassungen, weil alle zusammenhalten.
Von den Nazis wird er als Marxist und Kapitalist angefeindet,
kommt in "Schutzhaft", wofür er dann anschließend
Verpflegungsgeld zahlen muß, mehrmals wird er eingesperrt, zuletzt
in Buchenwald. Das Haus des Volkes muß umbenannt werden. Trotzdem
glaubt er weiter an die Menschen. Aber nach dem Krieg kommt die
Zwangsvereinigung von SPD und KPD, die SPDler werden diskriminiert.
Er wird von den SED-Verbrechern der ersten Stunde, darunter ein Staatsanwalt, der vorher ein Nazi war, verfolgt und mit
seinem Sohn über ein Jahr ins Gefängnis gesteckt. Enteignung,
natürlich "freiwillig". Er hätte gar nichts dagegen
gehabt, den Betrieb in Volkseigentum zu überführen, aber er wollte
nicht mit Kriegsverbrechern gleichgestellt werden, denn das waren die
Anschuldigungen, er habe am Krieg profitiert und sei Nazi gewesen. Er
darf nicht mehr in den Ort zurück, muß in den Westen fliehen und
baut unweit von Probstzella, jenseits der Grenze, mit über 70 Jahren
noch einmal eine Fabrik auf. Mit über 90 Jahren stirbt er, den Tod
seiner ersten Frau und großen Liebe im Ersten Weltkrieg, den Tod eines
Sohns im Zweiten Weltkrieg und den Unfalltod eines anderen Sohnes hat
er nebenbei auch noch wegstecken müssen.
Es
blutet einem das Herz, wenn man liest, daß solch ein progressiver
Ingenieur und Unternehmer aus der DDR vergrault wurde, und das betraf
damals ja sehr viele. Auch die Bauhaus-Ästhetik ist bald als
Formalismus angegriffen worden. Ein Gestalter konnte für Jahre seine
Arbeit verlieren für eine elegante, zylindrische Vase, mit dem
Argument, daß "unsere Werktätigen" so etwas Schmuckloses
nicht wollten. Das wollen die meisten in der Tat auch heute noch
nicht, Form ist immer Pionierarbeit, und ich weiß nicht, ob beim Geschmack der Menschen wirklich Fortschritte gemacht werden.
Nach
der Wende haben die Nachkommen von Franz Itting lange Jahre unter
gewaltigen Kosten vergeblich um die Rückübertragung ihrer Fabrik
gekämpft, was aber daran scheiterte, daß sie schon in der SBZ
enteignet worden sind. Das Haus des Volkes ist vor ein paar Jahren
von einem Medizintechnik-Unternehmer aus dem Ort, der ein Bauhaus-Fan
ist, gekauft und wieder im Originalstil eingerichtet worden (wobei
mich die Stühle im Saal stören). Man muß nicht denken, daß das
Haus im Ort sehr beliebt sei, für viele sieht es wegen seiner
strengen Ästhetik nach Bahnhofshalle aus. Durch die großen Fenster
im Essensaal blickt man über den Bahnhof in den Wald, wo die Grenze
verlief und heute das "Grüne Band", der Versuch, die
ehemalige Grenze von Finnland bis Bulgarien als Biotop zu erhalten. Auf dem Bahnhofsgelände steht noch ein Haufen Mauersegmente. Ein guter Ort, um über die schöne, aber für die damalige Zeit nicht untypischen Verbindung von technischem Pioniergeist, Unternehmertum, Philanthropie, Sozialdemokratie, Form- und Körperbewußtsein zu meditieren und darüber, welche Chance in der DDR schon zur Zeit ihrer Gründung durch das Machtdenken und die Borniertheit vieler SED-Kader verspielt wurde.
(Quelle:
Roman Grafe "Mehr Licht – Das Lebenswerk des 'Roten Itting'", Mitteldeutscher Verlag)
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