Im Literaturhaus Rostock
hatte ich einmal eine Lesung, leider vor 10 Zuschauern, während der
Biergarten draußen voll war. Immerhin durfte ich dadurch das Haus
betreten, denn das Literaturhaus Rostock befindet sich im Peter-Weiss-Haus, dem ehemaligen
Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft. Die Wand des
holzgetäfelten Büros ziert eine Besonderheit, eine Karte der
Sowjetunion, in die alle Errungenschaften eingezeichnet sind, von
denen damals immer die Rede war: Baikal-Amur-Magistrale,
Olympia-Sportstätten in Moskau, Staudämme, eine Eismeer-Station,
Baikonur. Aber auch einen Leninkopf gibt es, dort wo er in der
Verbannung war, manche erinnern sich an den Ort: "Schuschenskoje". "In der Verbannung" - "w ssilke", das war eines der Wörter aus dem
Schulstoff der Mittelstufe, das sich mir eingeprägt hat, denn es war
so sinnlos, so ein ausgefallenes Wort zu lernen, wenn man die
einfachsten Begriffe nicht kannte. Die Deutsch-Sowjetische
Freundschaft war für mich eine reine Pflichtveranstaltung, ich war
nur Mitglied, um mir Ärger vom Leib zu halten, im Ausweis gab es
nichtmal ein Foto. Es war mir einfach nicht möglich, mich auf Befehl
für die Sowjetunion zu interessieren. Und doch hat die damalige
Berieselung dazu geführt, daß ich mich zehn Jahre nach der Wende
plötzlich brennend für Rußland interessiert habe, weil ich der
Sache auf den Grund gehen wollte, und seitdem war ich
immer wieder für Russischkurse dort. Ich frage mich immer, ob wegen
oder trotz
DDR-Prägung. Ich würde diplomatisch sagen, weil es die DDR nicht
mehr gab, konnte die damalige Prägung sich endlich positiv auswirken. Ich
sehe das im Nachhinein nämlich als Horizonterweiterung und bin
darüber froh. Beim Russischkurs im Haus der russischen Kultur und
Wissenschaften in Berlin habe ich meine Lehrerin immer amüsiert,
wenn ich meine alten Begriffe und Themen anbrachte. Als das Wort
"ssilka" ("ссылка")
vorkam, konnte stolz anmerken, daß Lenin "в
ссылке
в
Шушенском" war, in der Verbannung in Schuschenskoje. Die
Lehrerin lachte, denn das Wort hat inzwischen eine ganz andere
Hauptbedeutung, es heißt nämlich nicht nur "Verbannung",
sondern auch "Verweis" und von hier ist es nicht weit zum
Neologismus "Link". Es ging gar nicht um Lenins Verbannung,
sondern um aktuellen Wortschatz für die Computerbenutzung. Aber
jetzt Musik! "Joschka aus Schuschenskoje!
Nichts Schönres gab's für ihn/ als auf dem Eis zu laufen mit
Schlittschuhn wie Lenin/ mit Schlittschuhn wie Lenin/ der nach des
Tages Mühen im Dämmern auf dem Schusch/ dahinglitt, dahinglitt,
dahinglitt, husch/ Doch Joschka konnt nicht stehen alleine auf dem
Eis/ Da flüstert ihm ins Öhrchen Wladimir Iljitsch leis/ der nach
des Tages Mühen im Dämmern auf dem Schusch/ dahinglitt – husch:/
'Komm, reich mir deine Hände, ich führ dich, bitte sehr/ von rechts
nach links und rundum, es ist gar nicht so schwer/ so nach des Tages
Mühen im Dämmern auf dem Schusch/ zu gleiten – husch.'"
(Worte: Anne Geelhaar, Weise: Siegfried Bimberg)
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