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Montag, 9. März 2015

Halbschale SE 2
















Weil ich meinen Schal vergessen habe, gehe ich in Erfurt schnell zu Rossmann: "Haben sie auch Schals?" "Sogar soviele, daß wir ihnen einen verkaufen können." Ich nehme den Billigsten, so etwas kauft man ja nicht fürs Leben. "Oh, da ist noch die Friedensfahne dran", sagt die ca. 55jährige Verkäuferin, weil noch ein Preisschnipsel dranhängt. Sehr sympathisch, die hat bestimmt eigentlich etwas ganz anderes gelernt, wie die meisten Ost-Frauen in ihrem Alter. Vielleicht "Verfahrenstechnikerin" oder sie war Treckerfahrerin in der LPG.
Am Abend habe ich eine Lesung, das Mikrophon wurde mit Tape an einer kaputten Nachttischlampe festgeklebt. Es gibt anschließend noch eine Kneipenrunde, ein Jurist will mich zu einer neu entdeckten Synagoge in der Altstadt führen, zu DDR-Zeiten diente sie als Kegelbahn. Er ist Mitte der 90er aus dem Westen hergekommen und hat den Mieterbund aufgebaut. Bei einer der ersten Demos verhängte die Stadt ein "Bekleidungsverbot", sie meinten allerdings eigentlich ein "Verkleidungsverbot", leider hätten sie dann nicht nackt demonstriert. Eine Frau, ebenfalls aus dem Westen, sie hätten drüben Lesen nach dem "Prinzip der dicken Mitte" gelehrt. Sie arbeitet beim BUND und kümmert sich um "Das grüne Band", den Versuch, die ehemalige Grenze, die über 12500 Km von Finnland bis Bulgarien reicht, als Lebensraum für seltene Arten zu erhalten. Sie haben ein Lockstockprojekt für Wildkatzen, die seien Leittier für die Öffentlichkeitsarbeit, weil sie so kuschlig aussehen (häßliche Tiere bringen weniger Spenden, das ist so ungerecht wie im Literaturbetrieb). Eine Heuschrecke haben sie für die Öffentlichkeitsarbeit als Comicfigur eingeführt. Beim Fernsehtermin war die echte Heuschrecke aber so vollgefressen gewesen, daß sie den Grashalm nicht hochkam.
Rechts neben mir sitzt ein Autor, der zwischen Erfurt und Berlin pendelt. Wir besprechen, wie man das seit Jahren tut, die Vor- und Nachteile des gesellschaftlichen Umbruchs, den wir erlebt haben. In Berlin hätten die Kohlenhändler bei ihm mal mit den aufgeschütteten Bruchkohlen eine Ratte erschlagen, die er dann beim Schippen fand. Ich sollte mir mal das Plattenbauviertel "Venedig" im Erfurter Zentrum ansehen, da würden Enten in den Balkonblumentöpfen vom ersten Stock nisten.
Am Morgen fahre ich mit der Linie 3 Richtung Norden zum Neubaugebiet, wo die Straßen Moskauer Straße, Bukarester Straße, Hanoier Straße oder Sofioter Straße heißen, was mir aus komplizierten pychologischen Gründen sympathisch ist. Auffällig, wieviel besser die Gebäude aussehen, wenn beim Renovieren das Fugenraster gelassen wurde. Es gibt auch schöne Reliefelemente, die ich noch nie gesehen habe. An einem ungenutzten Buddelkasten steht eine lange Beton-Formsteinwand, dem Rondell sieht man den gestalterischen Gedanken noch an. Der Stein ist das "X-Element SE1" vom genialen Hubert Schiefelbein, in senkrechter Ausrichtung, erfahre ich aus meinem Bestimmungsbuch ("Kunstvolle Oberflächen des Sozialismus: Wandbilder und Betonformsteine"). In Berlin soll es davon irgendwo eine vier Meter hohe Wand geben, obwohl das wegen der Statik gar nicht erlaubt war. Ich wundere mich, daß ich nirgends das KuFZ sehe, das ehemalige "Kultur-und Freizeitzentrum", aber ich muß, ohne es zu erkennen, daran vorbeigelaufen sein, weil von der markanten, runden Ecke das Glasstein-Mosaik "Die Beziehung des Menschen zu Natur und Technik" von Josep Renau gerade erst abgebaut und eingelagert worden ist. Das Gebäude soll abgerissen werden, das Kunstwerk ist zwar denkmalgeschützt, aber nicht das Gebäude.
Als ich in der Straßenbahn den Automaten studiere, spricht mich eine Oma an, ich könne auf ihr Ticket mitfahren, es sei ja teuer. Sie ist mal aus Versehen, als sie sich verquatscht hatte, eine Station zu weit gefahren und mußte 60 Mark zahlen. Sie war zum Friedhof zu ihrem Mann unterwegs gewesen, da traf sie dann auch den Kontrolleur wieder, der zu seinem Sohn wollte, da tat es ihm wohl fast leid, sie dort wiederzusehen. Aber die dürften nicht kulant sein, die seien ja immer zu zweit unterwegs, "wie früher" (also bei der Stasi), damit der eine den anderen kontrolliere. Ich frage sie nach ihrer Neubauwohnung, ja, das war damals sensationell, sie hatten vorher bei drei Kindern kein Bad. Leider war das Bad im Neubau dann so klein und ohne Fenster, aber immerhin. Wie sie das geschafft haben, da immer alle durchzuschleusen morgens … Die beiden Mädchen beschwerten sich immer, daß sie zusammen baden mußten, und der Junge alleine durfte. Nach dem Anbringen der Wärmedämmung ist die Miete jetzt 20% hochgegangen, und dafür schalten sie die Heizung manchmal nachts noch nicht ein, dabei haben sie zur Zeit nur 18° in der Wohnung. Nach dem Krieg fuhr die Erfurter Straßenbahn eine Zeitlang mit einem Leichenwaggon zum Hauptfriedhof, fällt mir ein, aber danach frage ich sie lieber nicht.
Morgens eine Lesung im obersten Stockwerk einer Schule, dem "DUG-Raum", was "darstellen und gestalten" heißt. Ich solle doch mal nach der einen Seite aus dem Fenster sehen, der Dom. Mich interessiert aber die andere Seite mehr, mit dem leerstehendenen Hochhaus der "Thüringer Allgemeinen". Die Schüler werden nach fünf Minuten unruhig und ich leide mit ihnen mit. Nichts könnte sie mehr langweilen als die Vergangenheit. Vielleicht sind ihre Kinder ja dann wieder zu gebrauchen, oder die Enkel. Daß der Platz vor dem Erfurter Fress-Ex früher inoffiziell "Wim-Thoelke-Platz" hieß, wegen "Der große Preis." Um ihnen den Witz zu erklären, bräuchte man eine ganze Schulstunde.

Am Gagarin-Ring eine Gagarin-Büste. Das Hochhaus der "Thüringer Allgemeinen" mit schönem Portal, durch die Betonelemente vom Vordach wächst ein Baum, so lange steht das hier schon leer. An einem Imbiß fallen mir Betonformsteine mit halbkreisförmigen Höhlungen auf, die ich noch nie gesehen habe. Teile der Wand fehlen, an anderen Stellen hängt Dönerwerbung drüber. Mein Gott, sieht denn niemand, wie spektakulär so ein Bauwerk ist? Etwas, worauf man als Stadt stolz sein könnte? Erfurt ist die Hauptstadt der Betonformsteine, das hier ist die "Halbschale SE 2" von Hubert Schiefelbein, die ab 1970 gebaut wurde. Diese Steine sind vom Gestalter für Wohnungsbaukombinate, in dem Fall für das Erfurter, entworfen worden, und dann konnte sie jeder kaufen und verbauen. Deshalb weiß man nie, wo man sie noch findet, es gab sogar Lizenzen für die Sowjetunion.
Zwischen zwei Hochhäusern komme ich auf einen großen Spielplatz, Abdrücke von Kinderfüßen im Asphalt, sicher so alt wie das Viertel. Ich fotografiere das quadratische Pflaster, mit einzelnen roten und blauen Pflastersteinen, das Muster kommt direkt aus meiner Kindheit. Die Halbschale ist hier für die Umgrenzung eines Grillplatzes verwendet worden, einem konstituierenden Ort der DDR-Gesellschaft. Vielleicht konnte man Grillen sogar als kulturelle Veranstaltung für den Wettbewerb der Hausgemeinschaften um eine Goldene Hausnummer abrechnen? Oder tue ich ihnen Unrecht, und das war früher eine Bühne für Laienspielaufführungen? Zwei Rentner wollen wissen, warum ich das fotografiere. Den Grund sage ich ihnen lieber nicht, nämlich, daß ich solch einen Stein gerne als Grabstein hätte. "Zu DDR-Zeiten war das sauberer hier", sagen sie. Jeden Montag sei da wer gekommen. Und daß es nur noch ein Spielgerät gebe. Aber die Plattenbauten seien saniert besser. Die große, tiefer gelegene Fläche im Asphalt, das sei früher im Winter eine Eisbahn gewesen. Ob sie sich noch an den Puhdys-Bassisten Harry Jeske mit seinem goldenen Mercedes erinnern? Der war doch Erfurter? Ein sehr schmaler Durchgang, die Mohrengasse, führt vom Innenhof zwischen den Neubauten in die Altstadt, mit dem renovierten, mittelalterlichen Stadtmuseum, ein intensiver Gegensatz.

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