Ein
Dorfanger in Leipzig-Probstheida, ausgerechnet in der Russenstraße
gab es hier in der DDR-Zeit eine Gedenkstätte, wo an ein
ungewöhnliches Kapitel der deutsch-russischen Beziehungen erinnert
wurde. Weil Lenin an dieser Stelle in einer sozialdemokratischen
Druckerei die ersten Ausgaben seiner Zeitung "Iskra" (der
Funke) illegal drucken ließ, war das ein wichtiger Erinnerungsort.
Wenn man nichts davon weiß, findet man heute kaum noch eine Spur,
ich bin 20 Jahre zu spät, aber damals hat mich das noch nicht
interessiert. Zehntausende Schulkinder sind hier durchgeschleust
worden und haben das sicher nur so mittel interessant gefunden, weil
sie lieber im Zentrum von Leipzig Eis essen wollten, aber der Punkt eben abgehakt werden mußte. Zwischen zwei Häusern kann man durchgehen,
auf ein Wiesenstück, das wie ein kleiner Park wirkt. Man sieht ein
gemauertes Rondell, wo früher eine Gedenktafel stand, mit einem Bild
von Lenin und der Inschrift: "In diesem Hause wurde im
Dezember 1900 die erste Nummer der von W.I.Lenin geschaffenen ersten
gesamtrussischen marxistischen Zeitung Iskra gedruckt".
Durch die Scheiben des verrammelten Gebäudes ist nichts zu erkennen.
Die Druckerpressen und alles andere Ausstellungsmaterial sollen im
Stadtmuseum eingelagert sein, die Gedenkstätte paßte nicht mehr in
die neue Zeit, man hat die ganze Geschichte auch angezweifelt. Ich
gehe noch einmal in die Büsche, da ruft mir ein Nachbar durchs
Fenster zu: "Ist schon verkauft!" Offenbar hält er mich
für einen Investor. Normalerweise werde ich für einen Dieb
gehalten. Ich erfahre, daß in der Straße ein Mann vom Bürgerverein
wohnt, der sich auskenne. Als ich dort am Gartentor klingle, weiß
ich nicht so recht, wie ich formulieren soll, wonach ich suche. Aber
dann stelle ich mir vor, ich sei Gerd Ruge, der nuschelt immer etwas
in irgendeiner Landessprache und gleich schütten ihm alle ihr Herz
aus. Herr B. ist auch sehr freundlich, er erzählt mir, daß hier
früher täglich Mannschaftswagen voller russischer Soldaten aus den
Kasernen kamen, die diese Station aus Lenins Biographie besuchten.
Auch andere Touristen kamen scharenweise, das Pflaster vor dem
Gartentor ist von den Bussen noch richtig eingedrückt. Da hat man
als Kind Abzeichen gegaupelt. "Gegaupelt?" "Na,
getauscht." In der Straße gab es auch große
Reinigungsaktionen, wenn Persönlichkeiten zu Besuch kamen (bei
Honecker wurden ja von der Stasi die Bäume geradegezogen, habe ich
mal gehört). Die Laternen stammen aber von nach der Wende, auch die
RSL2, ob das stimmt? Hier hatte man noch Gaslaternen, sagt er, die
wurden jeden Tag angemacht. An der Gedenkstätte hängt noch das
Schild vom Denkmalschutz, aber offenbar sind die Auflagen durch
geschickte Verkäufe der Treuhand umgangen worden. Das Nachbarhaus
soll abgerissen werden. Daneben sieht man an der Fassade ein Kreuz
aus dunklen Punkten, das seien Kanonenkugeln von der Völkerschlacht,
die hat man da eingearbeitet. Hier würde man überall Eisen von
damals finden, wenn man danach suche. Eigentlich müßte es eine
Gedenkstätte für die Gedenkstätte geben, denke ich, also eine Gedenkstätte
zweiten Grades. Ob die kommunistische Bewegung es verdient hat, daß
man ihre historischen Stätten immer erhält, kann man ja diskutieren, aber
an den Erinnerungskult, der hier einmal betrieben wurde, sollte man
durchaus erinnern. Eine Künstlerin aus Argentinien hat hier im
letzten Jahr eine temporäre Installation vorgestellt, eine
biographisch motivierte historische Erkundung zu diesem Ort, den ihr
Großvater in den 70ern auf einer Reise besucht hat.
(iskra-essay.blogspot.de)
Ich frage Herrn B. noch
nach seinem schönen, aus Eisenteilen geschraubten Gartentor, vor
allem die Hausnummer fällt auf. Ja, den Zaun hat er selbst gebaut, wie
auch sein Haus, er hätte ja noch eine gute Berufsausbildung
bekommen. Die Zahl wird von silbernen Punkten gebildet, das ist
genietet, eigentlich sollte das ein Lichtkasten werden. Die Nummer
hängt hier schon 40 Jahre. Aber sie haben jetzt sowieso andere
Hausnummern, weil die Nummerierung von der Stadt Leipzig
vereinheitlicht wurde. Früher hatten sie hier die preußische
"Hufeisennummerierung", die war umlaufend. Für die
Alteingesessenen war das ganz natürlich, aber die Neuen von heute
kommen damit nicht zurecht, auch manchmal die Rettungswagen. Die
Neuen schlagen hier oft nur auf, solange sie hier arbeiten, dann sind
sie wieder weg. Er wohnt hier seit seiner Geburt.
Gleich um die Ecke steht
das Völkerschlachtdenkmal, die Treppe ist noch voller Schnee und
rutschig. Bruno Schmitz hat es entworfen, derselbe Architekt wie beim
Kyffhäuser. Giganten mit Kriegern im Schoß, leider habe ich für solchen architektonischen Irrsinn immer etwas übrig.
Ich fahre bis nach oben und studiere Leipzig, die Plattenbauten im
Südosten muß ich noch abgrasen, einer davon ist das längste
durchgehend begehbare Gebäude Deutschlands. Das große
Backsteingebäude im Süden ist kein Schloß, sondern das Krematorium
vom Friedhof. Und im Norden sieht man einen roten Stern, am
russischen Pavillon auf dem alten Messegelände. Das kommt in einem
meiner Lieblingskinderfilme vor "Immer Ärger mit Blasius".
Am Interessantesten ist für mich aber die Vitrine mit Leipziger
Müll, den man bei Renovierungen gefunden hat. Vor 100 Jahren ist
damit der Hügel aufgeschüttet worden, Müll ist für Archäologen
ja immer die schönste Hinterlassenschaft der Menschheit. Eine
kolorierte Postkarte "Napoléon intime" kaufe ich, darauf
guckt ein Napoleon-Double verliebt ein dickes Kind an, die Frau steht
daneben. Als 2013 die Völkerschlacht
mit Hobbysoldaten nachgestellt wurde, sah man überall an den
Bushaltestellen im Leipziger Süden Menschen in Verkleidungen dieser
Epoche stehen, Soldaten von Napoleon und Blücher, die eine rauchten
oder auf ihrem iphone den Wetterbericht lasen. Männer haben so
seltsame Hobbys. Ich habe gar kein Hobby, die Hobbys sterben ja
eigentlich aus, die werden immer gleich zum Beruf.
Ich
fahre zum Rundling, der mir auf der Karte aufgefallen war, ein
Ensemble von drei Ringen mit Häusern von 1929/30. Die äußere Straße
heißt Nibelungenring, der Platz in der Mitte Siegfriedplatz. Das
Rondell wird konsequenterweise von einem Trampelpfad gekreuzt, da
können sie das noch so schön symmetrisch planen. So sah früher Sozialbau aus, wenn man einen fortschrittlichen Stadtbaurat hatte (Hubert Ritter, später erst von den Nazis vergrault, dann von den DDR-Funktionären.)
Auf dem Weg zur
S-Bahn überrascht mich ein Flugzeug der Interflug, eine Iljuschin
62, die mitten an der Straße steht und neben einer Bowlingbahn als
Caféterrasse dient. Sogar
die fahrbare Treppe zum Aussteigen haben sie, die entfernt an einen
Stretch-Trabant erinnert. In Leipzig-Lindenau habe ich auch schon
eine Tupolew gesehen, auf dem Dach eines Oldtimermuseums. Konnte man
die Flugzeuge irgendwann von der Treuhand kaufen? Leider hatte ich
damals gar kein Geld, das wäre ein ungewöhnliches Wochenendhaus
geworden. Von der Brücke sieht man die Gleise, zwischen denen im
spitzen Winkel ein Schrebergarten eingeklemmt ist, ich bewundere
immer die Enthusiasten, die an den unwirtlichsten Orten, umtost von
Verkehr und Geratter von Zügen an ihrer Idylle festhalten, der
Mensch ist so anpassungsfähig. Ich gehe Richtung S-Bahnhof
Stötteritz. Kommt der nicht in "Als wir träumten" vor?
Wenn die Besucher eine Stadt durch die Brille eines Romans
betrachten, hat man es als Autor geschafft. Ich glaube, es war eine
Stelle, wo der Erzähler von Skinheads überrascht wurde. Auf einem
der hier parkenden Sattelschlepper steht 3348. Ein alter Mann zu
einem anderen: "Die Draiundraißisch is dis Gäßamtgewischt von
der Zugmaschine und die Achtunvierzisch ist die Pä-Es-Zohl."
"Jawoll",
antwortet der andere. Geheimwissen alter Männer.
Später lese ich, daß man
am Völkerschlachtdenkmal in einer Vitrine ein Brötchen sehen kann,
das am 18.Oktober 1813 gebacken wurde. Das habe ich nicht gewußt und
deshalb nicht gesehen, sehr ärgerlich, jetzt muß ich da noch einmal hin.
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