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Mittwoch, 18. März 2015

Leipzig-Probstheida













Ein Dorfanger in Leipzig-Probstheida, ausgerechnet in der Russenstraße gab es hier in der DDR-Zeit eine Gedenkstätte, wo an ein ungewöhnliches Kapitel der deutsch-russischen Beziehungen erinnert wurde. Weil Lenin an dieser Stelle in einer sozialdemokratischen Druckerei die ersten Ausgaben seiner Zeitung "Iskra" (der Funke) illegal drucken ließ, war das ein wichtiger Erinnerungsort. Wenn man nichts davon weiß, findet man heute kaum noch eine Spur, ich bin 20 Jahre zu spät, aber damals hat mich das noch nicht interessiert. Zehntausende Schulkinder sind hier durchgeschleust worden und haben das sicher nur so mittel interessant gefunden, weil sie lieber im Zentrum von Leipzig Eis essen wollten, aber der Punkt eben abgehakt werden mußte. Zwischen zwei Häusern kann man durchgehen, auf ein Wiesenstück, das wie ein kleiner Park wirkt. Man sieht ein gemauertes Rondell, wo früher eine Gedenktafel stand, mit einem Bild von Lenin und der Inschrift: "In diesem Hause wurde im Dezember 1900 die erste Nummer der von W.I.Lenin geschaffenen ersten gesamtrussischen marxistischen Zeitung Iskra gedruckt". Durch die Scheiben des verrammelten Gebäudes ist nichts zu erkennen. Die Druckerpressen und alles andere Ausstellungsmaterial sollen im Stadtmuseum eingelagert sein, die Gedenkstätte paßte nicht mehr in die neue Zeit, man hat die ganze Geschichte auch angezweifelt. Ich gehe noch einmal in die Büsche, da ruft mir ein Nachbar durchs Fenster zu: "Ist schon verkauft!" Offenbar hält er mich für einen Investor. Normalerweise werde ich für einen Dieb gehalten. Ich erfahre, daß in der Straße ein Mann vom Bürgerverein wohnt, der sich auskenne. Als ich dort am Gartentor klingle, weiß ich nicht so recht, wie ich formulieren soll, wonach ich suche. Aber dann stelle ich mir vor, ich sei Gerd Ruge, der nuschelt immer etwas in irgendeiner Landessprache und gleich schütten ihm alle ihr Herz aus. Herr B. ist auch sehr freundlich, er erzählt mir, daß hier früher täglich Mannschaftswagen voller russischer Soldaten aus den Kasernen kamen, die diese Station aus Lenins Biographie besuchten. Auch andere Touristen kamen scharenweise, das Pflaster vor dem Gartentor ist von den Bussen noch richtig eingedrückt. Da hat man als Kind Abzeichen gegaupelt. "Gegaupelt?" "Na, getauscht." In der Straße gab es auch große Reinigungsaktionen, wenn Persönlichkeiten zu Besuch kamen (bei Honecker wurden ja von der Stasi die Bäume geradegezogen, habe ich mal gehört). Die Laternen stammen aber von nach der Wende, auch die RSL2, ob das stimmt? Hier hatte man noch Gaslaternen, sagt er, die wurden jeden Tag angemacht. An der Gedenkstätte hängt noch das Schild vom Denkmalschutz, aber offenbar sind die Auflagen durch geschickte Verkäufe der Treuhand umgangen worden. Das Nachbarhaus soll abgerissen werden. Daneben sieht man an der Fassade ein Kreuz aus dunklen Punkten, das seien Kanonenkugeln von der Völkerschlacht, die hat man da eingearbeitet. Hier würde man überall Eisen von damals finden, wenn man danach suche. Eigentlich müßte es eine Gedenkstätte für die Gedenkstätte geben, denke ich, also eine Gedenkstätte zweiten Grades. Ob die kommunistische Bewegung es verdient hat, daß man ihre historischen Stätten immer erhält, kann man ja diskutieren, aber an den Erinnerungskult, der hier einmal betrieben wurde, sollte man durchaus erinnern. Eine Künstlerin aus Argentinien hat hier im letzten Jahr eine temporäre Installation vorgestellt, eine biographisch motivierte historische Erkundung zu diesem Ort, den ihr Großvater in den 70ern auf einer Reise besucht hat. (iskra-essay.blogspot.de)
Ich frage Herrn B. noch nach seinem schönen, aus Eisenteilen geschraubten Gartentor, vor allem die Hausnummer fällt auf. Ja, den Zaun hat er selbst gebaut, wie auch sein Haus, er hätte ja noch eine gute Berufsausbildung bekommen. Die Zahl wird von silbernen Punkten gebildet, das ist genietet, eigentlich sollte das ein Lichtkasten werden. Die Nummer hängt hier schon 40 Jahre. Aber sie haben jetzt sowieso andere Hausnummern, weil die Nummerierung von der Stadt Leipzig vereinheitlicht wurde. Früher hatten sie hier die preußische "Hufeisennummerierung", die war umlaufend. Für die Alteingesessenen war das ganz natürlich, aber die Neuen von heute kommen damit nicht zurecht, auch manchmal die Rettungswagen. Die Neuen schlagen hier oft nur auf, solange sie hier arbeiten, dann sind sie wieder weg. Er wohnt hier seit seiner Geburt.
Gleich um die Ecke steht das Völkerschlachtdenkmal, die Treppe ist noch voller Schnee und rutschig. Bruno Schmitz hat es entworfen, derselbe Architekt wie beim Kyffhäuser. Giganten mit Kriegern im Schoß, leider habe ich für solchen architektonischen Irrsinn immer etwas übrig. Ich fahre bis nach oben und studiere Leipzig, die Plattenbauten im Südosten muß ich noch abgrasen, einer davon ist das längste durchgehend begehbare Gebäude Deutschlands. Das große Backsteingebäude im Süden ist kein Schloß, sondern das Krematorium vom Friedhof. Und im Norden sieht man einen roten Stern, am russischen Pavillon auf dem alten Messegelände. Das kommt in einem meiner Lieblingskinderfilme vor "Immer Ärger mit Blasius". Am Interessantesten ist für mich aber die Vitrine mit Leipziger Müll, den man bei Renovierungen gefunden hat. Vor 100 Jahren ist damit der Hügel aufgeschüttet worden, Müll ist für Archäologen ja immer die schönste Hinterlassenschaft der Menschheit. Eine kolorierte Postkarte "Napoléon intime" kaufe ich, darauf guckt ein Napoleon-Double verliebt ein dickes Kind an, die Frau steht daneben. Als 2013 die Völkerschlacht mit Hobbysoldaten nachgestellt wurde, sah man überall an den Bushaltestellen im Leipziger Süden Menschen in Verkleidungen dieser Epoche stehen, Soldaten von Napoleon und Blücher, die eine rauchten oder auf ihrem iphone den Wetterbericht lasen. Männer haben so seltsame Hobbys. Ich habe gar kein Hobby, die Hobbys sterben ja eigentlich aus, die werden immer gleich zum Beruf.
Ich fahre zum Rundling, der mir auf der Karte aufgefallen war, ein Ensemble von drei Ringen mit Häusern von 1929/30. Die äußere Straße heißt Nibelungenring, der Platz in der Mitte Siegfriedplatz. Das Rondell wird konsequenterweise von einem Trampelpfad gekreuzt, da können sie das noch so schön symmetrisch planen. So sah früher Sozialbau aus, wenn man einen fortschrittlichen Stadtbaurat hatte (Hubert Ritter, später erst von den Nazis vergrault, dann von den DDR-Funktionären.)
Auf dem Weg zur S-Bahn überrascht mich ein Flugzeug der Interflug, eine Iljuschin 62, die mitten an der Straße steht und neben einer Bowlingbahn als Caféterrasse dient. Sogar die fahrbare Treppe zum Aussteigen haben sie, die entfernt an einen Stretch-Trabant erinnert. In Leipzig-Lindenau habe ich auch schon eine Tupolew gesehen, auf dem Dach eines Oldtimermuseums. Konnte man die Flugzeuge irgendwann von der Treuhand kaufen? Leider hatte ich damals gar kein Geld, das wäre ein ungewöhnliches Wochenendhaus geworden. Von der Brücke sieht man die Gleise, zwischen denen im spitzen Winkel ein Schrebergarten eingeklemmt ist, ich bewundere immer die Enthusiasten, die an den unwirtlichsten Orten, umtost von Verkehr und Geratter von Zügen an ihrer Idylle festhalten, der Mensch ist so anpassungsfähig. Ich gehe Richtung S-Bahnhof Stötteritz. Kommt der nicht in "Als wir träumten" vor? Wenn die Besucher eine Stadt durch die Brille eines Romans betrachten, hat man es als Autor geschafft. Ich glaube, es war eine Stelle, wo der Erzähler von Skinheads überrascht wurde. Auf einem der hier parkenden Sattelschlepper steht 3348. Ein alter Mann zu einem anderen: "Die Draiundraißisch is dis Gäßamtgewischt von der Zugmaschine und die Achtunvierzisch ist die Pä-Es-Zohl."
"Jawoll", antwortet der andere. Geheimwissen alter Männer.

Später lese ich, daß man am Völkerschlachtdenkmal in einer Vitrine ein Brötchen sehen kann, das am 18.Oktober 1813 gebacken wurde. Das habe ich nicht gewußt und deshalb nicht gesehen, sehr ärgerlich, jetzt muß ich da noch einmal hin.

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