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Samstag, 21. März 2015

Schweinebauch und Bischofsmütze













Als Kind habe ich einmal sehr gestaunt, als in unserer Straße das Kopfsteinpflaster aufgerissen wurde und sich zeigte, wie dick die Steine waren. Ich hatte immer gedacht, sie bedeckten nur die Oberfläche. Beim Spazieren beobachtete man die Abfolge von Granitplatten und neueren quadratischen Platten. Die beiden Streifen von kleinen Pflastersteinen rechts und links dienten nach meiner damaligen Meinung offiziell als Hundeklo. (Man nennt es Passéepflaster und das Muster hat eine "regelmäßige Unregelmäßigkeit", was man beim Verlegen erst einmal hinbekommen muß.) Die Platten aus Lausitzer Granit, bei denen keine zwei sich gleichen, heißen "Schweinebäuche", weil sie nach unten so unförmig und schwer sind. Manchmal haben sie Narben, ich glaube von Granateinschlägen im Krieg. Man sieht auch ausgebesserte Stellen, Flicken aus verschiedenen Epochen. Wenn man den Blick immer auf den Boden heftete, merkte man nach der Wende manchmal gar nicht, ob man in Ost- oder in Westberlin war, auf Schweinebäuchen war man immer zuhause. Trotzdem wurden bei uns dann an vielen Kreuzungen an allen vier Ecken Schilder aufgehängt: "Gehwegschäden", was eigentlich immer ein Hinweis darauf war, daß es sich besonders lohnte hinzusehen, weil das Pflaster interessante Spuren aufwies. Die Schäden hatte ich bis dahin jedenfalls gar nicht bemerkt. Ich gucke immer noch gerne nach unten und versuche, diese Zeichen zu lesen. Am U-Bahnhof Eberswalder, der in so vielen Filmen vorkommt ("Berlin, Ecke Schönhauser", "Das Versteck"), hat jahrelang ein Stück vom alten rot-weißen Geländer überlebt, hinter dem schönen Reggae-Kiosk, der bei der Neuregelung der Kreuzung für den Radweg aber mit dem Geländer einfach verschwunden ist. Es gibt nur noch an ein paar Stellen, wo an der Bordsteinkante blasse Reste von roter Signalfarbe zu sehen sind. Von wann die wohl stammt? Die fünfeckigen Platten, die rechts und links den Rand vom quadratischen Pflaster bilden, heißen übrigens "Bischofsmützen". Sollte ich mal Straßenpflasterer darauf ansprechen? Wer weiß, welche Geheimnisse sie noch kennen? Im Chemnitzer Heckertviertel habe ich große, sechseckige Waben gesehen, sind die nur dort zu finden? In Dresden, Leipzig und Halle habe ich eine längere, schmalere Form von Schweinebäuchen gesehen, womit hängt das zusammen? Galt hier eine andere Norm? Industrienormen sind ja etwas, was unser Leben viel stärker bestimmt als der freie Wille. Zwischen Ost- und Westdeutschland hat man sich bei den Normen nicht sehr weit auseinanderbewegt, die Russen hätten uns ja auch zwingen können, bei den Gleisen ihre Spurweite zu übernehmen, die Lichtschalter hätten per Beschluß vom Politbüro nach oben ausgehen können, wir hätten die kyrillische Schrift einführen können wie in der Moldawischen Sowjetrepublik. Beim Farbfernsehen hatten wir ja das französische SECAM statt PAL, weil de Gaulle das Chrustschow aufgeschwatzt hat und man sich mit den Franzosen generell besser verstand (ein Beispiel für longue durée: die heutige Farbfernseh-Weltkarte). Auf einem kleinen Berliner Friedhof beobachtete ich einen Gartenarbeiter, der den Rasen sprengte. Er hatte den Gully mit einem Werkzeug geöffnet, das selbstgeschweißt aussah. Mit einem spitzen Ende kam man unter eine Lasche im Gullydeckel, mit einem Vierkant am anderen Ende konnte der Hahn geöffnet werden. Und es gab auch eine praktische Öse, um das Werkzeug nach getaner Arbeit aufzuhängen. Ich fragte ihn, wie alt das war, er wußte nichts darüber, nur daß es der Gemeinde gehörte, für die er arbeitete. Ob das schon seit der Weimarer Republik benutzt wurde? Mir war nie aufgefallen, daß die Gullydeckel fast immer so eine Lasche zum Hochheben haben, ich freute mich, daß ich jetzt das Werkzeug dazu kannte. Wie schön, wenn ein altes Werkzeug noch seinen Zweck erfüllt. Unsere alten Schraubenzieher mußten wir nach der Wende nicht wegwerfen, sämtliche elektrischen Geräte konnte man einfach in westdeutsche Steckdosen stöpseln, man konnte die Fotoapparate mit den westlichen Filmdosen bestücken, die Plattenspieler drehten sich noch genauso schnell und man konnte auch hinter der Grenze im Rechtsverkehr fahren. So vieles hatte sich geändert, aber so vieles andere auch wieder nicht. Aber was sich nicht ändert, fällt einem eben nicht so auf.

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