Texte

Mittwoch, 11. März 2015

Telefonie





Die alte Post in Dessau hat einen Anbau aus der Aufbauzeit nach dem Krieg, mit zwei in Stein gemeißelten Friesen. Das immer wieder auftauchende Motiv der Völkerfreundschaft (damals sahen die Chinesen noch aus wie Chinesen und die Afrikaner wie Afrikaner ...) wurde hier mit einem anderen Thema kombiniert: der die Kontinente verbindenden Telefonie. Seltsam steinzeitlich wirkt die damals so begeisternde Technik heute schon wieder, an Schnurlosigkeit ist nicht zu denken. Der Mensch richtet sich nach dem Standort des Apparats und nicht umgekehrt. Eskimo und Chinese telefonieren miteinander, ein weltweites Netz von Telefonleitungen macht es möglich, der Chinese wählt gerade mit der Wählscheibe eine Nummer. Ein Mann mit Pfeife im Mund verzwirbelt die dicken Kabel in Handarbeit (oder was macht er da?) Was der andere Mann macht, kann ich nicht erkennen. Traditionelle Frauenberufe: das Fräulein von der Vermittlung und von der Telegraphen-Station, wo Nachrichten auf Papierstreifen ausgedruckt werden, wie im Western. Daß man jeden auf der Welt anrufen konnte, wenn man das Telefonbuch seiner Stadt besaß, so habe ich mir Telefonieren als Kind vorgestellt. Oder einfach eine Nummer wählen und sich überraschen lassen? Meine Eltern warnten uns ja immer, nicht in ihrer Abwesenheit aus Versehen "in Japan" anzurufen, dann müßten sie am Monatsende eine Rechnung von 1000 Mark bezahlen. Das graue Telefon aus Nordhausen war ein Lieblingsspielzeug, die vielen interessanten Auskunftsnummern, wie gerne rief ich die Zeitansage an, oder die Ansage vom Kinoprogramm. Wenn man nachhause kam, rannte man als erstes zum Telefon, das gerade klingelte. Einen Anrufbeantworter hatte man ja nicht. Meine Mutter saß manchmal einen ganzen Nachmittag am Apparat und wartete darauf, daß ihr Gespräch nach Hamburg durchgestellt wurde. Und dann sprach man lauter in den Hörer, je nachdem, wie weit entfernt der Angerufene lebte. In der DDR hatten die wenigsten Telefon, und ich erinnere mich noch genau an den Tag in den 90ern, als ich plötzlich in meine Hinterhofwohnung von der Telekom einen Apparat geliefert bekam. Jetzt konnte ich auch mit Eskimos telefonieren. Aber führt Telefonieren heute immer noch zu mehr Freundschaft zwischen den Völkern?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.