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Samstag, 11. April 2015

Andrjucha aus Simferopol













Ich will heute nach Magdeburg und fahre über Potsdam. Ich bin noch gar nicht richtig aus Berlin raus, als ich schon auf die Toilette muß. Als Autofahrer kommt man mit der Natur ja nur beim Urinieren in Kontakt, das sind immer schöne Momente, man hat sogar ein bißchen das Gefühl, sich nützlich zu machen. In den Wald ist eine Lichtung geschlagen, es gibt schon Asphaltwege und Laternen, hier baut SAP ein "Innovationszentrum", was nicht schlecht klingt, aber nebenbei werden auch Luxusvillen und Eigentumswohnungen am See verkauft. In einen Baum sind russische Buchstaben gekratzt, ich lese "Moskwa" und eine Jahreszahl, erst nach und nach sehe ich, daß der ganze Wald hier russisch beschriftet ist, die verschiedensten Ortsnamen: Tjumen, Perm, Aschchabad. Die älteren Daten sind weiter oben und die Konturen der Buchstaben sind unschärfer, weil die Bäume inzwischen gewachsen sind. Einstiche deuten auf Messerwurfübungen hin. Das war hier früher alles Sperrgebiet, um ganz Berlin zog sich ein Ring von russischen Kasernen, man erkannte sie an den Betonmauern mit dem simplen Kassettenmuster. Man hatte so gut wie keine Kontakte zu den einfachen Soldaten, die den Leuten leidtaten. Für die Sowjetunion war die DDR wenig mehr als ein Truppenstandort, und ihren Soldaten und Offizieren waren inoffizielle Kontakte aus Geheimhaltungsgründen so streng untersagt, daß Offiziere in 24 Stunden abberufen wurden, wenn sie sich nicht daran hielten. Trotzdem erinnern sich ihre Kinder heute gerne an die Jahre in der DDR, die für sie eine Heimat war. Zuhause sind sie zwischen Baum und Borke.
Auf der anderen Straßenseite sehe ich einen Zaun mit Rotem Stern, dahinter lange Reihen Kasernengebäude, von Bäumen überwucherte Wege. Man kann durch das Gitter hineinschlüpfen. Ein verwaister Ehrenhain, mit den Halterungen für Fackeln und kreisförmig angeordneten Steinen. Viele DDR-Laternen und ein Feuerlöscher aus Apolda. Gut für meine Feuerlöscher-Topographie, ich freue mich ja immer, wenn ich noch welche aus Neuruppin sehe, Apolda kannte ich noch gar nicht. "Auf der Wacht für die Errungenschaften des Sozialismus" steht neben einer vermauerten Tür, darunter auf einem Schild mit gekreuzten Raketen "Warschauer Vertrag". In den Gebäuden blättern drei Schichten Farbe ab. Die Russen waren ja beim ostdeutschen Handwerker dafür verrufen, daß sie Farbe einfach mit immer neuen Schichten übermalten, vor allem bei den Heizkörpern. In einem Raum stehen Bettgestelle. Die russischen Soldaten hatten nicht mal einen Spind, sie hatten nur einen Hocker und einen Rucksack, der an einem Nagel in der Wand neben dem Bett hing. Es sollen 100 und mehr in einem Raum geschlafen haben. Bei einem Russen habe ich gelesen, daß sie beim Essen nur 8 Näpfe für 12 Soldaten hatten, und man sich um das Essen balgen mußte. Man mußte den, der das Essen austeilte, verprügeln, dann bekam man in Zukunft eine Kelle ab. Ein Land, das jede Generation von Söhnen durch die Hölle einer von Sadismus und Entmenschlichung geprägten Armeezeit schickt, wird nie eine Zivilgesellschaft entwickeln.
Ein Raum mit einem Wandbild, Hase und Wolf als russische Folkloregruppe verkleidet, der Wolf spielt Balalaika, der Hase tanzt mit einem weißen Tuch in der Hand. Jemand hat Krokodil Gena das Gesicht rausgekratzt. Zwischenwände sind aus alten Papptafeln mit Losungen gebaut, als Tapete kleben überall russische Zeitungen. Ich entziffere die Einkratzungen an der Decke einer Dachkammer: "Ich, Andrjucha aus Simferopol, bis zur Heimkehr bleiben 6 Monate. Krim 88-90, Frühling". An den Bäumen waren immer nur die Städte zu lesen, nie Namen, wohl wegen der russischen Spionage-Paranoia, weil die Soldaten sonst Ärger bekommen hätten. Ich höre ein Geräusch und erstarre. Als ich es wage, auf den langen Flur hinauszuspähen, läuft dort eine Frau mit weißblonden Haaren, jetzt ist es endgültig ein Tarkowski-Film. Sie geht langsam den Gang hinunter und verschwindet durch eine der Türen. Eine Russin, die sie hier vergessen haben? Oder ein Geist? Ich weiß gar nicht, was grusliger wäre. Schnell mache ich mich davon. Im Zentrum von Potsdam halte ich an Ulrich Müthers "Seerose" genanntem Uferpavillon. Ob der Potsdamer Wahn eines Preußen-Historismus, der gerade das Zentrum zu verschlingen droht, wenigstens vor diesem originellen und lebensfrohen Bau von 1983 haltmachen wird?

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