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Samstag, 4. April 2015

Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit






Es regnet kalt und heftig, Jan führt mich zum Wassersportzentrum PCK Schwedt e.V., und hier sehe ich wieder das große Walroß, das mir gestern auf der Straße den Weg versperrt hat, drei Meter hoch, man kann durch den Kopf klettern und auf seinem Rücken runterrutschen. Es stammt aus dem Waldbad von Schwedt, das wegen des Bevölkerungsrückgangs geschlossen wurde. Ein paar Schwedter haben sich zusammengetan und die Rettung organisiert. Generationen von Kindern haben dieses Walroß geliebt, bzw., wie Jan sagt, sich beim Runterrutschen die Badehose aufgerissen. Ich stoße immer wieder auf solche Rettungsaktionen von Dingen aus der Kindheit. In Neubrandenburg will eine Gruppe einen alten Spielplatz-Betonelefanten, der auf einem Betriebshof verrottete, wieder aufbauen und aufstellen lassen. In Frankfurt/Oder versuchen Studenten, das schöne Lichtspieltheater der Jugend wieder zu eröffnen. Vielleicht wird ja auch irgendwann die längste Fußgängerbrücke Europas vom S-Bahnhof Storkower Straße zum Forckenbeckplatz wiedererrichtet, deren Abriß im Jahr 2006 mir einen Kindheitsort geraubt hat. Man hätte lediglich ein Jahr lang das Berliner Ensemble schließen müssen, das Geld hätte genau zur Renovierung ausgereicht.
Jan telefoniert und überrascht mich mit der Nachricht, daß wir uns das PCK angucken können, er kennt die PR-Chefin von einem Pleinair, an dem er teilgenommen hat. Das im Osten seltene und erhebende Gefühl, vor einem Werkstor zu stehen, hinter dem sich keine Industrieruinen befinden. Richtige Arbeiter kommen uns entgegen, man möchte jeden ausfragen, was er heute gemacht hat. Obwohl von 8000 nur 400 geblieben sind, die man noch braucht. Immerhin ist für das Werk mal die Stadt gebaut worden. Wir füllen einen Passierschein aus und betreten das schöne, helle und sachliche Verwaltungsgebäude. Das alte Treppengeländer ist durch einen höher liegenden, verchromten Handlauf ergänzt worden, weil die Norm sich verändert hat, jetzt sind es 90cm, die Menschen sind größer geworden seit der Wende. Auf jeder Etage hängen Gemälde, die früher vom Kombinat in Auftrag gegeben und gesammelt worden sind. Viele Künstler waren offenbar genauso fasziniert wie ich von den verwirrend verschlungenen Rohr- und Kesselanlagen. Man denkt ja immer, man könnte deren Funktion durch intensives Anstarren ergründen. "Landschaft der Erdölleitung Freundschaft", "Junge Familie – Kraft der Arbeiterklasse", "Porträt eines Anlagenfahrers" wären heute ungewöhnliche Sujets. Bei "Winterlandschaft" von Eberhard Hückstädt hängt nur noch das Schild, aber die weiße Rauhfasertapete macht ihre Sache als Ersatz ganz gut. Im Archivraum sind noch mehr Gemälde eingelagert, immerhin sind sie aufgehoben worden, viel ist ja nach der Wende auf dem Müll gelandet. Was malen Künstler heute? Damals sollte die Kunst die Arbeit thematisieren, aber wirklicher Realismus war gar nicht gefragt, sonst hätten die Bilder anders ausgesehen. Chemie wurde als Zukunftsversprechen zur Magie überhöht. Max Zimmering dichtete: "Lob der Chemie – Jedoch es weiß auch jedermann, daß man Chemie mißbrauchen kann, zum Gift- und Napalmdestillieren, um gegen Kinder Krieg zu führen. Nur dort, wo sie dem Volk gehört, den Menschen, die den Frieden schützen, und die Chemie nach Kräften nützen, zu überwinden Mangel, Not, hervorzubringen Kleidung, Brot, und Freude, Glück an jedem Ort – Chemie – Chemie! Welch Zauberwort!"
Wir machen eine Rundfahrt mit einem Kleinbus über das Werksgelände und bekommen die Anlagen erklärt. "Entschwefelung von schweren Rückständen", "Katalytischer Cracker", "Leichtbenzinverätherung", "High Conversion Soaker Cracker". Ich könnte mich ewig in diese faszinierenden Rohrlanschaften vertiefen, die aussehen, wie von den Doozers errichtet, diesen kleinen, grünen Bauarbeitern, die die Arbeit lieben und in den Höhlen der Fraggles immer Gerüste bauen, die den Fraggles als Snack dienen. Ich bezweifle, daß noch irgendwer durchschaut, was hier jede Leitung für eine Funktion hat. Programmierer bauen ja immer Kleinigkeiten in die Software ein, die nur sie kennen, um sich bei Entlassungen rächen zu können. Vielleicht gibt es hier ja noch aus Ostzeiten geheime Leitungen, deren Funktion niemand mehr kennt? Rohre, in denen damals Kaffee aus der Kantine an den Arbeitsplatz floß? Oder sogar Bier? Eine Rohrpostanlage, um die so seltenen privaten Telefone zu ersetzen? Und wegen der Entlassungen nach der Wende hat sich das Wissen um dieses Kommunikationssystem verloren?
Auffällig ist, daß wir keinen Menschen begegnen. Wir hätten uns vorgestellt, daß an so gewaltigen Anlagen ständig irgendwer schraubt, hämmert und nachbessert, wenigstens zur Dekoration. Selbst an dem bunt gekachelten, original DDR-Bushäuschen, das hier auf dem Werksgelände überlebt hat, wartet niemand.

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