Dienstag, 20. September 2011

Craiova, August '08

Selten hatte ich mich so frei gefühlt wie im Sommerkurs an der rumänischen Universität. Mit Heinz-Rühmann-Lächeln unterwarf ich mich voller Lust einer Ordnung, die auf mich als Privatier keinen Zugriff mehr hatte. Vielleicht hätte ich mich auch über einen Hocker gebeugt und Schläge mit dem Rohrstock hingenommen, um den Grad meiner Freiheit noch intensiver auszukosten. So muß man sich gefühlt haben, wenn man mit einem Westpaß in den Ostblock reiste, wie Herr Rossi, der nur in die Trillerpfeife blasen mußte, um sich in der der größten Gefahr in Luft aufzulösen und durch die Zeit zu verduften. Auf meine Art erlebte ich dasselbe, wenn ich morgens, mit einem Automatenkaffee in der Hand, zu spät den Unterrichtsraum betrat und, wenn mich etwas nicht interessierte, die Zeitung überflog. Den ins Exil gegangenen Rumänen wird vorgehalten, sie dürften sich kein Urteil über das Leben der Zurückgebliebenen erlauben. Dasselbe sagen die, die während der Belagerung in Sarajevo ausgeharrt haben über die Flüchtlinge. Wie weit muß man anwesend sein, um über ein Land Aussagen zu treffen? Manche Dinge fallen einem ja nur in den ersten fünf Minuten auf, z.B. das Wasser von den Klimaanlagen, das mir an den ersten Tagen auf den Kopf tropfte, es war für meine Wahrnehmung irgendwann verschwunden, weil ich den Pfützen automatisch auswich. Gibt es überhaupt die Realität Rumänien, die man mehr oder weniger gut kennen kann? Ergibt eine Dokumentation von Wim Wenders ein relevanteres Bild als eine einem Straßenhund umgebundene Kamera? Wieviel muß man gesehen haben? Ist "gesehen haben" quantifizierbar? Wenn das, was man sehen könnte, unendlich ist, spielt es dann eine Rolle, wieviel man gesehen hat? Sieht man mehr, wenn man sich viel bewegt, oder wenn man stehen bleibt und wartet? Beim Sommerkurs an der Universität fühlte ich mich wie der König als Bettler, der Traum von einem Studium ohne Prüfungen, einer Lehre, die nie zuende geht, ein Leben ohne jüngstes Gericht. Die Utopie einer Gesellschaft, in der jeder in Wirklichkeit nur den Platz eines anderen eingenommen hat, allen macht ihre Tätigkeit Freude, weil keiner machen muß, was er tut.

1 Kommentar:

Der Spion hat gesagt…

Eine Gesellschaft in der keiner machen muss, was er tut. Zwangloses Tätigsein unter maximaler Ausschöpfung der eigenen Gestaltungspotentiale. Wie lebensfreundlich wäre diese Gesellschaft. Ja, ist klar, dass das ein utopischer Gedanke ist. Vor lauter entspannter Glückseligkeit würde ich meine organisch bedingte Trostlosigkeit vergessen.