Dienstag, 17. März 2015

Wurstfaden aus Wittenberg













Das Schloßpavillon-Café in Wittenberg mit seiner dynamisch-eleganten Form aus den 60ern (nehme ich an), ein reizvoller Kontrast zu den Kirchenbauten und alten Fassaden in der Straße. Erinnert mich mit den großzügigen Fenstern, der sich nach unten verjüngenden Form und der halbrunden Front entfernt an den Tränenpalast, bei dem die transparent-optimistische Bauweise im krassen Gegensatz zur Funktion des Gebäudes stand (was sogar schon als absichtliche Täuschung interpretiert wurde). 
Auf dem Weg zum "Haus der Geschichte" fällt mein Blick durchs Fenster der Stadtbibliothek, und ich entdecke einen Keramik-Wandfries, der mich hineinlockt. Ich frage die Frau von der Information, und sie erlaubt mir, das Bild zu fotografieren. Von wem das Bild sei? Das weiß sie nicht, aber es war von Anfang an da, also ca. 1964. Neulich sei schon einer hiergewesen, um es zu fotografieren, der schrieb eine Arbeit über den Künstler. Ob sie mir eine Leiter holen solle? Tatsächlich verschwindet sie irgendwo und kommt mit einer Leiter zurück. Ich nutze die Zeit, um ein Bild für meinen Dia-Vortrag "Die Lücke zwischen Schmidt und Schmitt" aufzunehmen, eine in den Regalen von Buchhandlungen und Bibliotheken sehr häufig zu findende Lücke, die aber nur mir auffällt. Dann kann ich den Fries fotografieren, er zeigt die typischen Figuren aus dem Repertoire des sozialistischen Realismus der Aufbauzeit, Kosmonaut, Schweinepflegerin, Chemiker, Ingenieur, Schüler, Friedenstaube, Künstler. Trotzdem finde ich ihn freundlich und individuell ausgeführt. Man kann sich natürlich vorstellen, daß man damals irgendwann die Nase voll von dieser eingeschränkten Ikonographie hatte. Zumal es im Vergleich zur Wirklichkeit (in einer LPG!) reine Märchenmotive waren. Die Kunst sollte ja damals den idealen sozialistischen Menschen in seiner ausbeutungsfreien und dadurch auch widerspruchsfreien Umwelt darstellen und den Betrachter motivieren, diesem Ideal nachzustreben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß an diesen Effekt jemals jemand geglaubt hat. In meiner Erinnerung hat man diese Bilder einfach ausgeblendet wie heute die Werbung. Trotzdem freue ich mich, daß der Fries von einem früheren Bibliotheksleiter gerettet wurde. Man findet im Internet schnell Informationen zum Künstler, Karl Kothe aus Coswig, Arbeiterkind, Kommunist, von den Nazis verfolgt, Soldat, Kriegsgefangener, Künstler in der DDR, früher Tod. Und vielleicht war er als SED-Mitglied und Funktionär auch Stalinist und hat anderen Künstlern geschadet, die eine andere Vorstellung vom richtigen Weg zum Sozialismus hatten. Vielleicht weiß der Besucher, der schon vor mir hier war, mehr über den Fall. Wenn ich im Osten die vielen, schönen Tierskulpturen in den Parks und Tierparks sehe, muß ich immer denken, daß das auch eine Form der inneren Emigration war, bei Tieren konnte man nicht viel falsch machen.
Nebenan im "Haus der Geschichte" gibt es auf mehreren Etagen eines Wohnhauses nachgestellte Wohnräume aus verschiedenen Jahrzehnten zu sehen. Ein elektrischer AEG-Kühlschrank aus den 20ern stammt noch von den früheren Bewohnern, damals hochmodern. Unseren roten Küchenstuhl sehe ich, der ist bei uns noch in Gebrauch. "Gutes Gericht frohes Gesicht", steht auf einer Stickereiarbeit. Die Toiletten eines Kindergartens, der hier auf einer Etage mit Mietwohnungen untergebracht war. Die berühmten aneinandergereihten Toilettenschüsseln. Die kleinen Waschbecken ohne Mischbatterie, mit der noch eingepackten Kinderseife "Riesaer Kinderseife – mild – sahnig, pflegen" mit einem Waschbären drauf. Eine WM 60 ("Wellenradmaschine", Vorläufer der WM 66) mit Einweckgläsern drin. Damit hat man ja eingeweckt, das sei bei Jauch mal eine Frage gewesen, sagt meine Führerin. Ich weiß, da wurde von einem CDU-Politiker die Kanzlerin angerufen, als Joker, ging aber nicht ran. Die DDR-Gummiindianer seien besser gewesen, sagt sie an der Spielzeugvitrine, im Westen hatten sie nicht so viele Farben. Im Wohnzimmer der erste Farbfernseher, ein sowjetischer "Raduga". Die seien aber zu heiß geworden, da habe es öfter Wohnungsbrände gegeben. Aber immerhin konnte man, wenn in der Klasse jemand so einen Fernseher zuhause hatte, überprüfen, ob der rosarote Panther wirklich rosarot war. Besonders seltsam die Inszenierung des Schlafzimmers, zwei Schaufensterpuppen, er im gestreiften Schlafanzug, sie im roten Negligee auf dem Bett. Es gibt auch einen nachgestellten Konsum mit original gefüllten Gemüsegläsern, z.B. Bohnen und marinierte Silberzwiebeln Qepujka (von "Agroeksport Tirana"). Ob die noch schmecken? "Gesund leben – richtig ernähren", steht über dem Regal, ein ziemlicher Hohn, wenn man bei "Obst und Gemüse" (bzw. "Matsch und Gammel") fast nie Salat bekam (außer den importierten nach Tschernobyl). Wobei ich so etwas als Kind nie vermißt habe, mir lag mehr an Sofix Pudding ohne kochen. Was halten die Angestellten eigentlich von ihrem Museum? Na, diese 80er-Jahre-Stehlampe mit Fusseln, die stehe noch original so im Schlafzimmer seiner Eltern, sagt der eine an der Kasse etwas gequält, vielleicht tragen seine Eltern ja auch noch rotes Negligee und gestreiften Schlafanzug.
In manchen Städten im Osten hat man den Eindruck, daß es in ganzen Straßenzügen hauptsächlich A&V's, Antik-Shops und Trödelläden gibt. Auch hier stoße ich gleich in der nächsten Straße auf einen. Ich sehe eine "Csengös Mozdony"-Blechlok aus Ungarn, die mir irgendwie bekannt vorkommt. Auf einem Schild im Schaufenster steht: "Kaufe alles an, was ALT ist, außer Ihre Oma". Ich gehe dann noch in ein Geschäft für Sämereien, Pflanzenschutzmittel und "Seilererzeugnisse von einheimischen Erzeugern", das seit 1921 besteht, weil mir die schönen alten Schubladen und Regale auffallen. Es gibt verschiedenste Rollen mit Schnüren. Wir hatten so eine Schnurrolle, die, glaube ich, die ganzen DDR-Jahre hielt, weil sie nur für besondere Bastelarbeiten verwendet wurde. Für normale Zwecke nahmen wir die aufgerollten Schnüre der Westpakete, die wir in der leeren Schachtel einer Weihnachtspyramide sammelten. Ich kaufe "Wurstfaden", aus der Seilerei Bad Schmiedeberg. Ist der nach einem Wurstprinzip gezwirbelt? Nein, der dient nur zum Zubinden von Würsten. Da wird er wohl bei mir ziemlich lange halten. Der Laden sei von ihrem Großvater gegründet, sagt sie, und war immer privat, auch in der DDR. Und die Kunden kommen teilweise aus Berlin, weil ja jedes Bundesland eine eigene Gesetzgebung habe, und in Berlin sei es strenger mit den Pflanzenschutzmitteln, die holten die sich dann hier. Die alte Kasse darf ich knipsen, aber es sei schon vorgekommen, daß sie wer knipste und dann im Internet verkaufen wollte.
An den Wittenberger Wänden hängen überall Schilder, die auf berühmte Besucher aus der Vergangenheit hinweisen, Gorki, Peter der Große, man kann es ja nicht überprüfen. An einer unrenovierten Tür sehe ich ein altes KWV-Schild.

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