Ich
will heute nach Magdeburg und fahre über Potsdam. Ich bin noch gar
nicht richtig aus Berlin raus, als ich schon auf die Toilette muß. Als Autofahrer kommt
man mit der Natur ja nur beim Urinieren in Kontakt, das sind immer
schöne Momente, man hat sogar ein bißchen das Gefühl, sich
nützlich zu machen. In den Wald ist eine Lichtung geschlagen, es
gibt schon Asphaltwege und Laternen, hier baut SAP ein
"Innovationszentrum", was nicht schlecht klingt, aber
nebenbei werden auch Luxusvillen und Eigentumswohnungen am See
verkauft. In einen Baum sind russische Buchstaben gekratzt, ich lese
"Moskwa" und eine Jahreszahl, erst nach und nach sehe ich,
daß der ganze Wald hier russisch beschriftet ist, die
verschiedensten Ortsnamen: Tjumen, Perm, Aschchabad. Die älteren
Daten sind weiter oben und die Konturen der Buchstaben sind
unschärfer, weil die Bäume inzwischen gewachsen sind. Einstiche
deuten auf Messerwurfübungen hin. Das war hier früher alles
Sperrgebiet, um ganz Berlin zog sich ein Ring von russischen
Kasernen, man erkannte sie an den Betonmauern mit dem simplen
Kassettenmuster. Man hatte so gut wie keine Kontakte zu den einfachen
Soldaten, die den Leuten leidtaten. Für die Sowjetunion war die DDR
wenig mehr als ein Truppenstandort, und ihren Soldaten und Offizieren
waren inoffizielle Kontakte aus Geheimhaltungsgründen so streng
untersagt, daß Offiziere in 24 Stunden abberufen wurden, wenn sie
sich nicht daran hielten. Trotzdem erinnern sich ihre Kinder heute
gerne an die Jahre in der DDR, die für sie eine Heimat war. Zuhause
sind sie zwischen Baum und Borke.
Auf
der anderen Straßenseite sehe ich einen Zaun mit Rotem Stern,
dahinter lange Reihen Kasernengebäude, von Bäumen überwucherte
Wege. Man kann durch das Gitter hineinschlüpfen. Ein verwaister
Ehrenhain, mit den Halterungen für Fackeln und kreisförmig
angeordneten Steinen. Viele DDR-Laternen und ein Feuerlöscher aus
Apolda. Gut für meine Feuerlöscher-Topographie, ich freue mich ja
immer, wenn ich noch welche aus Neuruppin sehe, Apolda kannte ich
noch gar nicht. "Auf der Wacht für die Errungenschaften des
Sozialismus" steht neben einer vermauerten Tür, darunter
auf einem Schild mit gekreuzten Raketen "Warschauer Vertrag".
In den Gebäuden blättern drei Schichten Farbe ab. Die Russen waren
ja beim ostdeutschen Handwerker dafür verrufen, daß sie Farbe
einfach mit immer neuen Schichten übermalten, vor allem bei den
Heizkörpern. In einem Raum stehen Bettgestelle. Die russischen
Soldaten hatten nicht mal einen Spind, sie hatten nur einen Hocker
und einen Rucksack, der an einem Nagel in der Wand neben dem Bett
hing. Es sollen 100 und mehr in einem Raum geschlafen haben. Bei
einem Russen habe ich gelesen, daß sie beim Essen nur 8 Näpfe für
12 Soldaten hatten, und man sich um das Essen balgen mußte. Man
mußte den, der das Essen austeilte, verprügeln, dann bekam man in
Zukunft eine Kelle ab. Ein Land, das jede Generation von Söhnen
durch die Hölle einer von Sadismus und Entmenschlichung geprägten
Armeezeit schickt, wird nie eine Zivilgesellschaft entwickeln.
Ein
Raum mit einem Wandbild, Hase und Wolf als russische Folkloregruppe
verkleidet, der Wolf spielt Balalaika, der Hase tanzt mit einem
weißen Tuch in der Hand. Jemand hat Krokodil Gena das Gesicht
rausgekratzt. Zwischenwände sind aus alten Papptafeln mit Losungen
gebaut, als Tapete kleben überall russische Zeitungen. Ich
entziffere die Einkratzungen an der Decke einer Dachkammer: "Ich,
Andrjucha aus Simferopol, bis zur Heimkehr bleiben 6 Monate. Krim
88-90, Frühling". An den Bäumen waren immer nur die Städte zu
lesen, nie Namen, wohl wegen der russischen Spionage-Paranoia, weil
die Soldaten sonst Ärger bekommen hätten. Ich höre ein Geräusch
und erstarre. Als ich es wage, auf den langen Flur hinauszuspähen,
läuft dort eine Frau mit weißblonden Haaren, jetzt ist es endgültig
ein Tarkowski-Film. Sie geht langsam den Gang hinunter und
verschwindet durch eine der Türen. Eine Russin, die sie hier
vergessen haben? Oder ein Geist? Ich weiß gar nicht, was grusliger
wäre. Schnell mache ich mich davon. Im Zentrum von Potsdam halte ich
an Ulrich Müthers "Seerose" genanntem Uferpavillon. Ob der
Potsdamer Wahn eines Preußen-Historismus, der gerade das Zentrum zu
verschlingen droht, wenigstens vor diesem originellen und
lebensfrohen Bau von 1983 haltmachen wird?
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