Dienstag, 14. April 2015

Gewürgzurken








Hinter Gräfenhainichen sieht man schon aus der Ferne die Bagger von Ferropolis, das auf einer Halbinsel im Gremminer See liegt, einem Tagebausee. Genauer gesagt sind es Eimerkettenschwenkbagger, Schaufelradbagger und Raupensäulenschwenkbagger. Ist das nicht das Faszinierendste, was männliche Konstrukteurshirne je ersonnen haben? Dagegen ist der Eiffelturm ein eitler Langweiler, der kann sich ja nicht bewegen und in die Landschaft fressen. Heute pensionierte DDR-Ingenieure könnten ihn aber sicher entsprechend umbauen, wenn man sie ließe. Wie konnten diese Schrottberge überhaupt in Gang gesetzt werden? Mit was für gigantischen Elektromotoren? Und die Kohle, die damit gefördert wurde, hat mehr Energie gebracht, als das Fördern gekostet hat? Die einzige Energiequelle, die die DDR hatte, bis auf importieres Öl und Gas aus der Sowjetunion, war Braunkohle, die Vorräte der großen Kraftwerke reichten einen halben Tag, ständig rollten Züge mit neuer Kohle an. Ein Atomkraftwerk bei Stendal war schon im Bau und wurde durch die Wende nie fertiggestellt. Unsereiner war natürlich gegen die Zerstörung der Landschaft und gegen Kernkraft, wollte es aber trotzdem warm haben.
Auf einen Bagger kann man hochsteigen, ein langer Rundgang, wieviele Menschen das hier wohl bedient haben? Man bewegt sich wie auf der Reling eines Dampfers. Am liebsten würde ich noch nachträglich meinen Raupensäulenschwenkbaggerführerschein machen. Die Verbotsschilder und Hinweise auf Elektrokästen "Oelkühlung u. Oelheizung", mit schön kalligraphierter Schrift, sicher hatte man hier auch einen eigenen Schriftenmaler im Werk, so etwas gab es ja früher. Warum hat er das große "Ö" aufgelöst? Eine typographische Regel?
Die Bagger dienen ja heute als Kulisse für Rockfestivals, damit man sich bei der Musik nicht so langweilt. Ich gehe zwar nie zu Festivals, aber es würde mich interessieren, was Kylie Minogue von diesem Bühnenbild gehalten hat. Mawil, der 50 Jahre jünger ist als ich und deshalb noch ausgeht, erzählte mir, daß nach dem Melt jedesmal Anwohner der umliegenden Ortschaften über die riesige Festivalwiese streifen, wo die Besucher gezeltet haben und Flaschen einsammeln. Manche ziehen ihre Beute in einem liegengebliebenen Iglu-Zelt hinter sich her. Er selbst fand einmal volle Einkaufstüten mit ungeöffnetem Rotwein und einen neuen Campingkocher.
Die Gebäude auf dem Gelände schmücken 20 Meter hohe Graffitis mit den Gesichtern von Bergleuten. In der ehemaligen 30-KV-Station gibt es eine Ausstellung zur Geschichte des Braunkohletagebaus. Eine Schautafel der Zentralwerkstatt Gräfenhainichen, einem Reparaturbetrieb für die Braunkohleindustrie, später Teil des Kombinats Anlagebau Braunkohle. Auch so ein Betrieb mußte neben den eigentlichen Aufgaben Konsumgüter produzieren. Eine "Tischleuchte" aus Blech und Preßglas war das Resultat, sie sieht aus, als könnte man sie zur Not auch als Toaster benutzen. Fotos von Brigaden, Gesichter von Menschen, die jeden Tag um 5 Uhr morgens aufgestanden sind, wenn ich das sehe, fällt es mir immer schwer zu glauben, daß in der DDR niemand mehr richtig gearbeitet haben soll. Ein Raum mit der Nachbildung des "eeminterglazialen Waldelefantenschlachtplatzes aus dem Tagebau Gröbern", ein Baggerfahrer ist hier 1987 auf die Knochen eines Waldelefanten aus dem Pleistozän gestoßen. Das hat den Plan bestimmt mächtig aufgehalten. In der obersten Etage gibt es sogar ein Standesamt, man kann hier vor der Kulisse einer alten Schaltwarte heiraten, Paare, die sich beim Melt-Festival kennengelernt haben, tun das gerne, sie sehen aus, als hätten sie gerne eine Tischleuchte als Hochzeitsgeschenk.
In einem Verein arbeiten ein ehemaliger Chefkonstrukteur von Tagebaumaschinen, Schlosser, die auf solchen Ungetümen gearbeitet haben und Modellbauer an der Rekonstruktion von Modellen der Bagger, um damit an die Bergbaugeschichte der Region zu erinnern. Die Modelle waren früher so gut, daß sie halfen, Konstruktionsfehler zu finden und die Bagger zu verbessern. Mir erscheint es eine hervorragende Idee, wenn Männer als Pensionäre ihren ehemligen Arbeitsplatz nachbauen, besser als wenn sie in ihrer Freizeit Falschparker an die Polizei melden. Die echten Geräte wurden aber auch von Frauen gesteuert, so war das in der DDR.
Ans Schwarze Brett der Ausstellung hat jemand Kopien von kuriosen Fundstücken aus DDR-Zeitungen geheftet. Eine Anzeige: "Karena – Fruchtsaftgetränk Orange mit Grapefruitgeschmack". Wahrscheinlich in Wirklichkeit weder noch. "Delikateß-Gewürgzurken". Das scheint mir ein perfekter Überbegriff für die hier versammelten Tagebaumaschinen zu sein. Ich sehe es vor mir, wie sich die fünf riesigen Gewürgzurken mit ohrenbetäubendem Knirschen und Scheppern unaufhaltsam Meter für Meter in die Landschaft fressen und ihr die Braunkohle entreißen.

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