Mittwoch, 15. April 2015

Mödlareuth, "Klein Berlin"












Im vogtländischen Mödlareuth steht neben dem Parkplatz ein T34, der "nachweisbar an der Besetzung und Befreiung Sachsens und Thüringens durch die Rote Armee beteiligt war." 1969 überließ ihn die NVA dem Haus der Jungen Pioniere in Pößneck als "sichtbares Zeichen der deutsch-sowjetischen Freundschaft". Eine Frau will ihren Mann vor diesem Hintergrund fotografieren: "Setz dich mal drauf, wie Münchhausen." Wie Münchhausen? Ach so, die Kanonenkugel ... Er erklärt ihr die Technik, sie interessiert das kein bißchen. "Sieht aber nicht so gut verarbeitet aus", sagt sie. "Das ist russisch, das ist aus einem Stück." Ivan Lokomofeilow fällt mir ein, der eine Lokomotive aus einem Stück gefeilt hat. Er deutet auf den weißen Wachturm: "Die Dinger haben im Wind geschwankt, wenn de runtergelugt hast, durch die Schießscharten." Also ein ehemaliger Grenzer, der sich das nochmal ansehen will.
Der Ackerboden ist hier voller Schieferstücken. In den kleinen Ortschaften, durch die ich gekommen bin, waren die Häuser auch rundherum mit grauem Schiefer verkleidet.
Mödlareuth wurde "Klein Berlin" genannt, weil mitten durch das Dorf mit 50 Einwohnern die Grenze verlief. Ein Stück von den Grenzanlagen, die viel mehr waren als eine einfache Mauer, ist noch erhalten und kann besichtigt werden: Suchscheinwerfer, Beobachtungsbunker, Hundelaufanlage, Straßensperre "Igel" und "Jumbo". Das Fachwissen über ihren Aufbau brauche ich zum Glück nicht mehr.
Ich steige in einen Beobachtungsturm von 1974, man kommt über eine Metallleiter hoch. Die Hände riechen danach wie von den Klettergerüsten auf dem Spielplatz. Oben liegt noch das alte Linoleum. Acht Stunden Wache bis zur Ablösung, ohne Toilette, ob sie durch die Luken gepinkelt haben? Oder sind sie doch heimlich runtergestiegen? Wie langsam Zeit vergehen kann, lernt man beim Wachdienst. Ich habe dabei einmal mit dem Kopf gegen eine Wand gelehnt zu schlafen versucht, ich glaube, ich bin auch eingeschlafen.
Ich gerate in eine Führung für Rentner. Wie ist das eigentlich rechtlich, darf man mit einer Führung mitlaufen, für die man nicht bezahlt hat? Es kann einem ja nicht verboten werden, sich gleichzeitig dort aufzuhalten? Ein Mann, der aus einem Nachbarort stammt, erzählt sehr anschaulich. Ich mache eigentlich nichts anderes: Nachgeborene oder andere Interessenten für eine symbolische Summe durch mein Leben führen. Heute gebe es keine Probleme zwischen den Ortsteilen, sagt er, aber im Osten werde immer noch die OTZ (Ostthüringer Zeitung) gelesen, im Westteil der Hofer Anzeiger. Beim Telefonieren führt man ein Ferngespräch. Hier regiert Ramelow, dort Seehofer. Es gibt hier übrigens ein Funkloch, das Handy geht nicht. Oder haben die Russen im Wald noch einen Störsender versteckt? Für möglich würde man es halten. Er stammt aus einem Ort 3 Km weiter und durfte zum ersten Mal nach der Wende nach Mödlareuth. Seine Oma sagte immer: "Geh nicht zu nah an die Grenze, nicht daß sie uns umsiedeln!" Es gab mehrmals Zwangsumsiedlungen, eine dieser Aktionen hieß "Ungeziefer". Wenn jemand ohne Erben starb, wurde das Haus abgerissen, es konnte ja als Versteck für Flüchtlinge dienen. Sein Opa hatte drei Sparbücher, eins für die Beerdigung, eins für den Hausabriß und eins für Sonstiges.
Seehofer hat auch einen Gedenkstein für Helmut Kohl gestiftet, ein Betonblock mit einem Pink-Floydmäßigen Riß. Auf einer Plakette steht: "Dr.Helmut Kohl, Bundeskanzler 1982-1998. Für seine historischen Verdienste um die deutsche Einheit in Dankbarkeit, Horst Seehofer Bayerischer Ministerpräsident". Auch nicht geschmackvoller als die Bronzeskulptur "Grenzsoldat" von 1967.
Eine japanisch-indische Schülergruppe überholt uns, der Ort dürfte inzwischen von seiner Geschichte leben. Ob das immer so schön ist, jeden Tag diese Reisebusse?
Die Verwandten konnten damals sehen, ob der andere abends noch fernsah. Aber sie durften nicht über die Grenze rufen oder winken. Als Rentner durfte man ja in den Westen, man fuhr dann aus dem einen Teil Mödlareuths über Plauen und Hof, wo man vielleicht mit dem Auto abgeholt wurde, und war nach acht Stunden im Ortsteil gegenüber.
Es gibt eine große Fahrzeugausstellung mit SIL, GAZ, URAL, gigantischen russischen Militär-LKWs, die teilweise 100 Liter auf 100 Km verbrauchten. Leider hat mich das bei der Armee überhaupt nicht interessiert, sonst hätte ich mich vielleicht weniger gelangweilt. Und jetzt versuche ich, mir zu merken, in welcher Stadt die LKW's hergestellt wurden und was die Abkürzungen bedeuten. In einem Film sieht man, wie 1989 die Mauer geöffnet wird und eine Schalmeien-Kapelle hindurchmarschiert und dabei spielt: "Ja mir san mitm Radl da". Es wird angestoßen, die Ostler sind an ihren russischen Pelzmützen zu erkennen, das ist oft immer noch so.
In der Ausstellung über die Ungarnflüchtlinge ein Plakat für das Paneuropäische Picknick am 19.8.89 in Sopron. Ich weiß, daß ein Bekannter mir damals erzählt hat, daß er dort teilnehmen will. Und wie absurd ich es fand, daß noch jemand Otto von Habsburg heißt. Ich war zu dem Zeitpunkt mit einer Wandergruppe in den rumänischen Bergen. Wir wußten nichts von der Fluchtwelle, und ich wäre nicht spontan abgehauen, ich wollte unbedingt zur Rückkehr-von-der-Armee-Party eines Freundes, Ende August in der Lychener Straße. Ein legendärer Abend, den ich dann verpaßt habe, weil wir zu langsam gewandert sind.
Am Dorf-Informationskasten hängt eine Bekanntmachung: "Widerspruch gegen Fortgeltung der Darstellung von Vorhaben, die der Erforschung, Entwicklung oder Nutzung der Windenergie dienen, im gemeindlichen Flächennutzungsplan für die Zwecke der Anschluß- bzw. Konzentrationswirkung im Sinne des §35 Abs. 3 Satz Baugesetzbuch". Die Deutschen brauchen keine Grenzanlagen mehr, sie haben ja ihre Sprache. Auf der Ostseite liest man: "Satzung der Thüringer Tierseuchenkasse über die Erhebung von Tierseuchenkassenbeiträgen für das Jahr 2015". So sehen die Themen heute aus. Aus komplizierten psychologischen Gründen fühle ich mich im Ostteil von Mödlareuth etwas heimischer und esse im Restaurant "Grenzgänger" Roulade mit Klößen.

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