In
Eisenhüttenstadt, der "ersten sozialistischen Stadt
Deutschlands", halten wir an der Magistrale, die frühere
Leninallee, die jetzt Lindenallee heißt. Ein Wandmosaik mit einer
Friedenstaube, die einer Arbeiterhand entsteigt, von Walter Womacka,
dem umstrittenen Schöpfer einer Art sozialistischer Pop-Art. Oben
rechts haben DDR- und SU-Fahne überlebt. Arbeiter mit Helm, die an
einem Schaltpult telefonieren, das nach der Aufbauzeit aktuelle
Wunschbild vom Proletarier als hochqualifiziertem, entspanntem Lenker. Das Bild gehört zum ehemaligen Kaufhaus Magnet,
gegenüber steht das City Hotel Lunik leer, beide bildeten das Tor
zur "Magistrale", an deren Ende man das Stahlwerk sieht,
nicht wie früher ein Schloß. War Magistrale ein Ost-Wort? Es hieß
ja in Ost-Berlin auch "Magistrat" und nicht "Senat",
was mir sowieso seltsam vorkam, weil ich Senatoren nur aus
Römerfilmen kannte. Viele Skulpturen schmücken die Straße, eine
selbstbewußte, dicke Frau, sympathische Tiere. Ein Großschachfeld,
war das typisch für uns? In meiner Kindheit standen da oft auch noch
die großen Figuren. Sollten in einer idealen Gesellschaft die
Menschen nach der Arbeit auf der Straße Schach spielen? Wir gehen in
eine "Backhütte", die aussieht wie die Zeitungskioske
damals, nur größer. Selbstbedienung mit Tabletts. Ob das System
noch von früher stammt? Selbstbedienung galt ja mal als etwas
unglaublich Modernes. Der Kaffeeautomat gehöre der Kaffeefirma, der
alte sei kaputt gewesen, und den hier zu kaufen, war ihr zu teuer.
Sie erklärt uns, welchen Knopf wir drücken müssen. Ein Faltblatt
wirbt für die Einzelhändler auf der Magistrale, als Teaser das Bild
von Womacka mit DDR-Fahne. In der Tourist-Information hängt an der
Wand ein großes Foto, das die Mitarbeiterin mit Tom Hanks zeigt, der
Brille und Wollmütze trägt. Er hat ja im amerikanischen Fernsehen
für "Iron Hut City" geworben, dafür haben sie ihm einen
Trabi geschenkt. Der Buchladen hat sein Schaufenster mit
Schaufensterpuppen als Hochzeitspaar dekoriert. Es gibt Bücher, die
"Trau dich!" heißen. Ich lobe die Buchhändlerin für die
alten Holzregale, daß sie die ja nicht abschaffen. Buchläden kann
man ja heute oft schon wegen der schrecklichen Möbel nicht betreten.
Ein
renoviertes Gebäude mit Leuchtschrift "Aktivist" lockt
uns. Es war das erste Restaurant in Eisenhüttenstadt, jetzt sitzt
hier die Wohnungsbaugesellschaft. Das Treppenhaus mit Wendeltreppe,
Deckenleuchter und mit Keramik verkleideten Säulen. Im Bürobereich
mit holzgetäfelten Wänden und Säulen gibt es sogar noch alte
Bilder, die wir ausnahmsweise von nahem ansehen dürfen. Es fehlen
nur die Menschen in dieser so ehrgeizig geplanten Stadt. Ich war ja
schon in Nowa Huta bei Krakau und im ungarischen Dunaújváros,
beides Städte, die zur selben Zeit für Stahlwerke gebaut wurden,
aber dort war auf der Straße mehr los.
An
der Magistrale finden wir ein "Balkan"-Restaurant mit
Pension. Eine tief dekolletierte Serbin in den landestypischen, engen
Hosen und hohen Schuhen klärt uns auf, daß wir die einzigen
Übernachtungsgäste sind, für Frühstück müßte extra wer kommen,
da verzichten wir netterweise. Aber Internet gibt es, Passwort
"montenegro". Nachher würde das Restaurant voll sein, wenn
gegenüber im Theater die Veranstaltung ende. Vor dem
Friedrich-Wolf-Theater, dem sogenannten Fri-Wo hatten wir Mädchen in
grünen Kitteln stehen sehen, die ich erst für OP-Schwestern
gehalten hatte, die aber zu einer Schüler-Tanzgruppe gehörten.
Heute ist die Abschlußveranstaltung der Tanzwoche, gerade ist die
Pause zuende und die Glocke läutet. Wir tun so, als gehörten wir
dazu, gehen mit den anderen Zuschauern rein und setzen uns in eine
der hinteren Reihen. Ca. 400 Eltern, Großeltern und Geschwister der
auftretenden Schüler sind hier, kein Wunder, daß kein Mensch auf
der Straße war. Als hätten wir eine Überraschungsparty entdeckt.
"Wer Schmetterlinge lachen hört, der weiß wie Wolken
schmecken", heißt das Stück, es geht um das Lachen. Ich
erfahre, daß die Mona Lisa eine Gesichtslähmung hatte und deshalb
so geheimnisvoll lächelt. Eine andere These sagt aber, daß sie
keine Zähne mehr hatte. Der schöne Raum mit Holztäfelung, der
zahlreiche Jugendweihen gesehen hat und neuerdings Auftritte von
Jürgen von der Lippe. Wir huschen wieder raus, um im letzten Licht
noch eine Runde durch den prächtigen, renovierten ersten Wohnkomplex
zu drehen, riesige Hofbereiche, schöne Torbögen, filigrane,
freundliche Balkongitter, Blumen-Ornamente im Fassadenputz,
Erkerwohnungen.
Im
"Balkangrill" gibt es Gehacktes-Steak mit scharfer Sauce
und Bratkartoffeln, hinter mir sitzt ein Tätowierter mit
Ohrlochtunneln. Es ist viel zuviel, ich zwinge mich zum Essen, rücke alles zusammen und
verstecke die Kartoffeln unter dem Steak. "Hat es nicht
geschmeckt?" "Doch, nur zuviel." "Sollen wir
einpacken für Frühstück?"
Am
Morgen regnet es, wir sehen uns den ehemaligen Appellplatz der Schule
an, wo ein sowjetisches Ehrenmal steht. In Wirklichkeit liegen hier
aber keine Soldaten, sondern wegen des Stahlwerkbaus umgebettete
sowjetische Kriegsgefangene. Den Platz hat man früher im Winter als
Schlittschuhbahn hergerichtet. Wir gehen zum Dokumentationszentrum
Alltagskultur der DDR, Montag ist aber Ruhetag, und ich darf auch
nicht das Womacka-Glasfenster im Treppenhaus fotografieren, das geht
nichtmal, wenn geöffnet ist. Im Rathaus, im Stil der "Nationalen
Traditionen" aus den frühen 50ern, durfte ich Womackas
Wandmosaik "Völkerfreundschaft" ohne weiteres
fotografieren. Das Fenster hier zeigt das ideale Leben idealer Kinder
in einem sozialistischen Kindergarten. Wenn man es als
Kinderbuchillustration nimmt, ist es gut gemacht. Das schlimme ist,
daß er daran geglaubt und seinen Einfluß als Funktionär
entsprechend gegen andere Künstler ausgespielt hat. Es war aber eine
bemerkenswerte Geste, einen Kindergarten mit sozialistischer
Kirchenfensterkunst zu schmücken. Dafür gab es in Eisenhüttenstadt
anfangs keine Kirche, sondern nur eine Art Bauwagen für Gläubige
und später ein Zelt. Vor dem Gebäude des Kindergartens steht eine
Weltkugel-Skulptur mit kleinen Tieren, Kamel, Krokodil, Eisbären. Im
linken Teil des Gebäudes ist ein renovierter Kindergarten
untergebracht, noch mit alten Klettergerüsten und einem
Planschbecken mit wasserspuckendem Frosch. Rechts, im unrenovierten
Teil, steht sogar das komplette Sortiment an Gerüsten.
Die
Garagen im Hofbereich der Pension. Zwischen den Toren hängen Haken
zum Fixieren der Tore. Mit den Jahren haben die Haken beim Auspendeln
nach der Benutzung bogenförmige Furchen ins Mauerwerk gegraben, hier
und da ist schon mit Spachtelmasse geglättet worden. Gebrauchsspuren
begeistern mich in einer so jungen Stadt besonders.
Ich
will noch einmal näher an das Stahlwerk. Dort gibt es in einer alten
Baracke ein soziales Kaufhaus, wo Geld für Obdachlosenprojekte
eingenommen wird. Ich kaufe drei superfest-Wirtegläser von Margarete
Jahny, Buttermesser, wie wir sie auch hatten und einen Abriß der
SED, der unser "Geschichtsbuch" in der 11. und 12. Klasse
war. Ein Buch, das keinen einzigen lebendigen Satz zu enthalten
schien. Ich erinnere mich aber, wie überrascht ich war, hier den
Namen Herbert Wehner zu lesen, den kannte man doch aus dem
Westfernsehen, und was im Westfernsehen vorkam, war bei uns
normalerweise offiziell inexistent. In einem hinteren Raum steht eine
funktionstüchtige Radio-Plattenspieler-Kommode RS2FP von Heli, einer
Firma, die ein Spezialfall war, weil sie vor allem in den 60ern
großartig designte Radios gebaut hat. Sogar 78er kann man abspielen,
mein Vater besteht ja immer noch auf Plattenspielern mit 78er-Option
für seine drei Schallplatten-Ansichtskarten, die er besitzt.
Besonders genial ist die Aufklappvorrichtung, eine Feder dehnt sich
so aus, daß die Klappe gestützt wird, will man sie wieder
zuklappen, muß man die Feder leicht biegen, dann knickt sie ein.
Zwei Euro will die forsche Verkäuferin für die Gläser, die Messer
und den "Abriß". Zwei Männer vereinbaren gerade einen
Sofatransport. "Ick phone sie an und denn is ditt schick!"
sagt sie.
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