Montag, 6. April 2015

Iron Hut City

























In Eisenhüttenstadt, der "ersten sozialistischen Stadt Deutschlands", halten wir an der Magistrale, die frühere Leninallee, die jetzt Lindenallee heißt. Ein Wandmosaik mit einer Friedenstaube, die einer Arbeiterhand entsteigt, von Walter Womacka, dem umstrittenen Schöpfer einer Art sozialistischer Pop-Art. Oben rechts haben DDR- und SU-Fahne überlebt. Arbeiter mit Helm, die an einem Schaltpult telefonieren, das nach der Aufbauzeit aktuelle Wunschbild vom Proletarier als hochqualifiziertem, entspanntem Lenker. Das Bild gehört zum ehemaligen Kaufhaus Magnet, gegenüber steht das City Hotel Lunik leer, beide bildeten das Tor zur "Magistrale", an deren Ende man das Stahlwerk sieht, nicht wie früher ein Schloß. War Magistrale ein Ost-Wort? Es hieß ja in Ost-Berlin auch "Magistrat" und nicht "Senat", was mir sowieso seltsam vorkam, weil ich Senatoren nur aus Römerfilmen kannte. Viele Skulpturen schmücken die Straße, eine selbstbewußte, dicke Frau, sympathische Tiere. Ein Großschachfeld, war das typisch für uns? In meiner Kindheit standen da oft auch noch die großen Figuren. Sollten in einer idealen Gesellschaft die Menschen nach der Arbeit auf der Straße Schach spielen? Wir gehen in eine "Backhütte", die aussieht wie die Zeitungskioske damals, nur größer. Selbstbedienung mit Tabletts. Ob das System noch von früher stammt? Selbstbedienung galt ja mal als etwas unglaublich Modernes. Der Kaffeeautomat gehöre der Kaffeefirma, der alte sei kaputt gewesen, und den hier zu kaufen, war ihr zu teuer. Sie erklärt uns, welchen Knopf wir drücken müssen. Ein Faltblatt wirbt für die Einzelhändler auf der Magistrale, als Teaser das Bild von Womacka mit DDR-Fahne. In der Tourist-Information hängt an der Wand ein großes Foto, das die Mitarbeiterin mit Tom Hanks zeigt, der Brille und Wollmütze trägt. Er hat ja im amerikanischen Fernsehen für "Iron Hut City" geworben, dafür haben sie ihm einen Trabi geschenkt. Der Buchladen hat sein Schaufenster mit Schaufensterpuppen als Hochzeitspaar dekoriert. Es gibt Bücher, die "Trau dich!" heißen. Ich lobe die Buchhändlerin für die alten Holzregale, daß sie die ja nicht abschaffen. Buchläden kann man ja heute oft schon wegen der schrecklichen Möbel nicht betreten.
Ein renoviertes Gebäude mit Leuchtschrift "Aktivist" lockt uns. Es war das erste Restaurant in Eisenhüttenstadt, jetzt sitzt hier die Wohnungsbaugesellschaft. Das Treppenhaus mit Wendeltreppe, Deckenleuchter und mit Keramik verkleideten Säulen. Im Bürobereich mit holzgetäfelten Wänden und Säulen gibt es sogar noch alte Bilder, die wir ausnahmsweise von nahem ansehen dürfen. Es fehlen nur die Menschen in dieser so ehrgeizig geplanten Stadt. Ich war ja schon in Nowa Huta bei Krakau und im ungarischen Dunaújváros, beides Städte, die zur selben Zeit für Stahlwerke gebaut wurden, aber dort war auf der Straße mehr los.
An der Magistrale finden wir ein "Balkan"-Restaurant mit Pension. Eine tief dekolletierte Serbin in den landestypischen, engen Hosen und hohen Schuhen klärt uns auf, daß wir die einzigen Übernachtungsgäste sind, für Frühstück müßte extra wer kommen, da verzichten wir netterweise. Aber Internet gibt es, Passwort "montenegro". Nachher würde das Restaurant voll sein, wenn gegenüber im Theater die Veranstaltung ende. Vor dem Friedrich-Wolf-Theater, dem sogenannten Fri-Wo hatten wir Mädchen in grünen Kitteln stehen sehen, die ich erst für OP-Schwestern gehalten hatte, die aber zu einer Schüler-Tanzgruppe gehörten. Heute ist die Abschlußveranstaltung der Tanzwoche, gerade ist die Pause zuende und die Glocke läutet. Wir tun so, als gehörten wir dazu, gehen mit den anderen Zuschauern rein und setzen uns in eine der hinteren Reihen. Ca. 400 Eltern, Großeltern und Geschwister der auftretenden Schüler sind hier, kein Wunder, daß kein Mensch auf der Straße war. Als hätten wir eine Überraschungsparty entdeckt. "Wer Schmetterlinge lachen hört, der weiß wie Wolken schmecken", heißt das Stück, es geht um das Lachen. Ich erfahre, daß die Mona Lisa eine Gesichtslähmung hatte und deshalb so geheimnisvoll lächelt. Eine andere These sagt aber, daß sie keine Zähne mehr hatte. Der schöne Raum mit Holztäfelung, der zahlreiche Jugendweihen gesehen hat und neuerdings Auftritte von Jürgen von der Lippe. Wir huschen wieder raus, um im letzten Licht noch eine Runde durch den prächtigen, renovierten ersten Wohnkomplex zu drehen, riesige Hofbereiche, schöne Torbögen, filigrane, freundliche Balkongitter, Blumen-Ornamente im Fassadenputz, Erkerwohnungen.
Im "Balkangrill" gibt es Gehacktes-Steak mit scharfer Sauce und Bratkartoffeln, hinter mir sitzt ein Tätowierter mit Ohrlochtunneln. Es ist viel zuviel, ich zwinge mich zum Essen, rücke alles zusammen und verstecke die Kartoffeln unter dem Steak. "Hat es nicht geschmeckt?" "Doch, nur zuviel." "Sollen wir einpacken für Frühstück?"
Am Morgen regnet es, wir sehen uns den ehemaligen Appellplatz der Schule an, wo ein sowjetisches Ehrenmal steht. In Wirklichkeit liegen hier aber keine Soldaten, sondern wegen des Stahlwerkbaus umgebettete sowjetische Kriegsgefangene. Den Platz hat man früher im Winter als Schlittschuhbahn hergerichtet. Wir gehen zum Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Montag ist aber Ruhetag, und ich darf auch nicht das Womacka-Glasfenster im Treppenhaus fotografieren, das geht nichtmal, wenn geöffnet ist. Im Rathaus, im Stil der "Nationalen Traditionen" aus den frühen 50ern, durfte ich Womackas Wandmosaik "Völkerfreundschaft" ohne weiteres fotografieren. Das Fenster hier zeigt das ideale Leben idealer Kinder in einem sozialistischen Kindergarten. Wenn man es als Kinderbuchillustration nimmt, ist es gut gemacht. Das schlimme ist, daß er daran geglaubt und seinen Einfluß als Funktionär entsprechend gegen andere Künstler ausgespielt hat. Es war aber eine bemerkenswerte Geste, einen Kindergarten mit sozialistischer Kirchenfensterkunst zu schmücken. Dafür gab es in Eisenhüttenstadt anfangs keine Kirche, sondern nur eine Art Bauwagen für Gläubige und später ein Zelt. Vor dem Gebäude des Kindergartens steht eine Weltkugel-Skulptur mit kleinen Tieren, Kamel, Krokodil, Eisbären. Im linken Teil des Gebäudes ist ein renovierter Kindergarten untergebracht, noch mit alten Klettergerüsten und einem Planschbecken mit wasserspuckendem Frosch. Rechts, im unrenovierten Teil, steht sogar das komplette Sortiment an Gerüsten.
Die Garagen im Hofbereich der Pension. Zwischen den Toren hängen Haken zum Fixieren der Tore. Mit den Jahren haben die Haken beim Auspendeln nach der Benutzung bogenförmige Furchen ins Mauerwerk gegraben, hier und da ist schon mit Spachtelmasse geglättet worden. Gebrauchsspuren begeistern mich in einer so jungen Stadt besonders.
Ich will noch einmal näher an das Stahlwerk. Dort gibt es in einer alten Baracke ein soziales Kaufhaus, wo Geld für Obdachlosenprojekte eingenommen wird. Ich kaufe drei superfest-Wirtegläser von Margarete Jahny, Buttermesser, wie wir sie auch hatten und einen Abriß der SED, der unser "Geschichtsbuch" in der 11. und 12. Klasse war. Ein Buch, das keinen einzigen lebendigen Satz zu enthalten schien. Ich erinnere mich aber, wie überrascht ich war, hier den Namen Herbert Wehner zu lesen, den kannte man doch aus dem Westfernsehen, und was im Westfernsehen vorkam, war bei uns normalerweise offiziell inexistent. In einem hinteren Raum steht eine funktionstüchtige Radio-Plattenspieler-Kommode RS2FP von Heli, einer Firma, die ein Spezialfall war, weil sie vor allem in den 60ern großartig designte Radios gebaut hat. Sogar 78er kann man abspielen, mein Vater besteht ja immer noch auf Plattenspielern mit 78er-Option für seine drei Schallplatten-Ansichtskarten, die er besitzt. Besonders genial ist die Aufklappvorrichtung, eine Feder dehnt sich so aus, daß die Klappe gestützt wird, will man sie wieder zuklappen, muß man die Feder leicht biegen, dann knickt sie ein. Zwei Euro will die forsche Verkäuferin für die Gläser, die Messer und den "Abriß". Zwei Männer vereinbaren gerade einen Sofatransport. "Ick phone sie an und denn is ditt schick!" sagt sie.



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