Weil ich meinen Schal
vergessen habe, gehe ich in Erfurt schnell zu Rossmann: "Haben
sie auch Schals?" "Sogar soviele, daß wir ihnen einen
verkaufen können." Ich nehme den Billigsten, so etwas kauft man
ja nicht fürs Leben. "Oh, da ist noch die Friedensfahne dran",
sagt die ca. 55jährige Verkäuferin, weil noch ein Preisschnipsel
dranhängt. Sehr sympathisch, die hat bestimmt eigentlich etwas ganz
anderes gelernt, wie die meisten Ost-Frauen in ihrem Alter.
Vielleicht "Verfahrenstechnikerin" oder sie war
Treckerfahrerin in der LPG.
Am Abend habe ich eine Lesung, das
Mikrophon wurde mit Tape an einer kaputten Nachttischlampe
festgeklebt. Es gibt anschließend noch eine Kneipenrunde, ein Jurist
will mich zu einer neu entdeckten Synagoge in der Altstadt führen,
zu DDR-Zeiten diente sie als Kegelbahn. Er ist Mitte der 90er aus dem
Westen hergekommen und hat den Mieterbund aufgebaut. Bei einer der
ersten Demos verhängte die Stadt ein "Bekleidungsverbot",
sie meinten allerdings eigentlich ein "Verkleidungsverbot",
leider hätten sie dann nicht nackt demonstriert. Eine Frau,
ebenfalls aus dem Westen, sie hätten drüben Lesen nach dem "Prinzip
der dicken Mitte" gelehrt. Sie arbeitet beim BUND
und kümmert sich um "Das grüne Band", den Versuch, die
ehemalige Grenze, die über 12500 Km von Finnland bis Bulgarien
reicht, als Lebensraum für seltene Arten zu erhalten. Sie haben ein
Lockstockprojekt für Wildkatzen, die seien Leittier für die
Öffentlichkeitsarbeit, weil sie so kuschlig aussehen (häßliche
Tiere bringen weniger Spenden, das ist so ungerecht wie im
Literaturbetrieb). Eine Heuschrecke haben sie für die
Öffentlichkeitsarbeit als Comicfigur eingeführt. Beim Fernsehtermin
war die echte Heuschrecke aber so vollgefressen gewesen, daß sie den
Grashalm nicht hochkam.
Rechts neben mir sitzt ein Autor,
der zwischen Erfurt und Berlin pendelt. Wir besprechen, wie man das
seit Jahren tut, die Vor- und Nachteile des gesellschaftlichen
Umbruchs, den wir erlebt haben. In Berlin hätten die Kohlenhändler
bei ihm mal mit den aufgeschütteten Bruchkohlen eine Ratte
erschlagen, die er dann beim Schippen fand. Ich sollte mir mal das
Plattenbauviertel "Venedig" im Erfurter Zentrum ansehen, da
würden Enten in den Balkonblumentöpfen vom ersten Stock nisten.
Am Morgen fahre ich mit
der Linie 3 Richtung Norden zum Neubaugebiet, wo die Straßen
Moskauer Straße, Bukarester Straße, Hanoier Straße oder Sofioter
Straße heißen, was mir aus komplizierten pychologischen Gründen
sympathisch ist. Auffällig, wieviel besser die Gebäude aussehen,
wenn beim Renovieren das Fugenraster gelassen wurde. Es gibt auch
schöne Reliefelemente, die ich noch nie gesehen habe. An einem ungenutzten Buddelkasten steht eine lange Beton-Formsteinwand,
dem Rondell sieht man den gestalterischen Gedanken noch an. Der Stein
ist das "X-Element SE1" vom genialen Hubert Schiefelbein,
in senkrechter Ausrichtung, erfahre ich aus meinem Bestimmungsbuch
("Kunstvolle Oberflächen des Sozialismus: Wandbilder und
Betonformsteine"). In Berlin soll es davon irgendwo eine vier
Meter hohe Wand geben, obwohl das wegen der Statik gar nicht erlaubt
war. Ich wundere mich, daß ich nirgends das KuFZ sehe, das ehemalige
"Kultur-und Freizeitzentrum", aber ich muß, ohne es zu
erkennen, daran vorbeigelaufen sein, weil von der markanten, runden
Ecke das Glasstein-Mosaik "Die Beziehung des Menschen zu Natur
und Technik" von Josep Renau gerade erst abgebaut und
eingelagert worden ist. Das Gebäude soll abgerissen werden, das
Kunstwerk ist zwar denkmalgeschützt, aber nicht das Gebäude.
Als
ich in der Straßenbahn den Automaten studiere, spricht mich eine Oma
an, ich könne auf ihr Ticket mitfahren, es sei ja teuer. Sie ist mal
aus Versehen, als sie sich verquatscht hatte, eine Station zu weit
gefahren und mußte 60 Mark zahlen. Sie war zum Friedhof zu ihrem
Mann unterwegs gewesen, da traf sie dann auch den Kontrolleur wieder,
der zu seinem Sohn wollte, da tat es ihm wohl fast leid, sie dort
wiederzusehen. Aber die dürften nicht kulant sein, die seien ja
immer zu zweit unterwegs, "wie früher" (also bei der
Stasi), damit der eine den anderen kontrolliere. Ich frage sie nach
ihrer Neubauwohnung, ja, das war damals sensationell, sie hatten
vorher bei drei Kindern kein Bad. Leider war das Bad im Neubau dann
so klein und ohne Fenster, aber immerhin. Wie sie das geschafft
haben, da immer alle durchzuschleusen morgens … Die beiden Mädchen
beschwerten sich immer, daß sie zusammen baden mußten, und der
Junge alleine durfte. Nach dem Anbringen der Wärmedämmung ist die
Miete jetzt 20% hochgegangen, und dafür schalten sie die Heizung
manchmal nachts noch nicht ein, dabei haben sie zur Zeit nur 18° in
der Wohnung. Nach dem Krieg fuhr die Erfurter Straßenbahn eine
Zeitlang mit einem Leichenwaggon zum Hauptfriedhof, fällt mir ein,
aber danach frage ich sie lieber nicht.
Morgens
eine Lesung im obersten Stockwerk einer Schule, dem "DUG-Raum",
was "darstellen und gestalten" heißt. Ich solle doch mal
nach der einen Seite aus dem Fenster sehen, der Dom. Mich
interessiert aber die andere Seite mehr, mit dem leerstehendenen
Hochhaus der "Thüringer Allgemeinen". Die Schüler werden
nach fünf Minuten unruhig und ich leide mit ihnen mit. Nichts könnte
sie mehr langweilen als die Vergangenheit. Vielleicht sind ihre
Kinder ja dann wieder zu gebrauchen, oder die Enkel. Daß der
Platz vor dem Erfurter Fress-Ex früher inoffiziell
"Wim-Thoelke-Platz" hieß, wegen "Der große Preis."
Um ihnen den Witz zu erklären, bräuchte man eine ganze Schulstunde.
Am Gagarin-Ring eine
Gagarin-Büste. Das Hochhaus der "Thüringer Allgemeinen"
mit schönem Portal, durch die Betonelemente vom Vordach wächst ein
Baum, so lange steht das hier schon leer. An einem Imbiß fallen mir
Betonformsteine mit halbkreisförmigen Höhlungen auf, die ich noch
nie gesehen habe. Teile der Wand fehlen, an anderen Stellen hängt
Dönerwerbung drüber. Mein Gott, sieht denn niemand, wie spektakulär
so ein Bauwerk ist? Etwas, worauf man als Stadt stolz sein könnte?
Erfurt ist die Hauptstadt der Betonformsteine, das hier ist die
"Halbschale SE 2" von Hubert Schiefelbein, die ab 1970
gebaut wurde. Diese Steine sind vom Gestalter für
Wohnungsbaukombinate, in dem Fall für das Erfurter, entworfen
worden, und dann konnte sie jeder kaufen und verbauen. Deshalb weiß
man nie, wo man sie noch findet, es gab sogar Lizenzen für die
Sowjetunion.
Zwischen zwei Hochhäusern komme ich auf einen großen
Spielplatz, Abdrücke von Kinderfüßen im Asphalt, sicher so alt wie
das Viertel. Ich fotografiere das quadratische Pflaster, mit
einzelnen roten und blauen Pflastersteinen, das Muster kommt direkt
aus meiner Kindheit. Die Halbschale ist hier für die Umgrenzung
eines Grillplatzes verwendet worden, einem konstituierenden Ort der
DDR-Gesellschaft. Vielleicht konnte man Grillen sogar als kulturelle
Veranstaltung für den Wettbewerb der Hausgemeinschaften um eine
Goldene Hausnummer abrechnen? Oder tue ich ihnen Unrecht, und das war
früher eine Bühne für Laienspielaufführungen? Zwei Rentner wollen
wissen, warum ich das fotografiere. Den Grund sage ich ihnen lieber
nicht, nämlich, daß ich solch einen Stein gerne als Grabstein
hätte. "Zu DDR-Zeiten war das sauberer hier", sagen sie.
Jeden Montag sei da wer gekommen. Und daß es nur noch ein Spielgerät
gebe. Aber die Plattenbauten seien saniert besser. Die große, tiefer
gelegene Fläche im Asphalt, das sei früher im Winter eine Eisbahn
gewesen. Ob sie sich noch an den Puhdys-Bassisten Harry Jeske mit
seinem goldenen Mercedes erinnern? Der war doch Erfurter? Ein sehr
schmaler Durchgang, die Mohrengasse, führt vom Innenhof zwischen den
Neubauten in die Altstadt, mit dem renovierten, mittelalterlichen
Stadtmuseum, ein intensiver Gegensatz.
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