Als
Kind habe ich einmal sehr gestaunt, als in unserer Straße das
Kopfsteinpflaster aufgerissen wurde und sich zeigte, wie dick die
Steine waren. Ich hatte immer gedacht, sie bedeckten nur die
Oberfläche. Beim Spazieren beobachtete man die Abfolge von
Granitplatten und neueren quadratischen Platten. Die beiden Streifen von kleinen
Pflastersteinen rechts und links dienten nach meiner damaligen Meinung offiziell als Hundeklo. (Man nennt es Passéepflaster und das Muster hat
eine "regelmäßige Unregelmäßigkeit", was man beim
Verlegen erst einmal hinbekommen muß.) Die Platten aus Lausitzer
Granit, bei denen keine zwei sich gleichen, heißen "Schweinebäuche",
weil sie nach unten so unförmig und schwer sind. Manchmal haben sie
Narben, ich glaube von Granateinschlägen im Krieg. Man sieht auch
ausgebesserte Stellen, Flicken aus verschiedenen Epochen. Wenn man
den Blick immer auf den Boden heftete, merkte man nach der Wende
manchmal gar nicht, ob man in Ost- oder in Westberlin war, auf
Schweinebäuchen war man immer zuhause. Trotzdem wurden bei uns dann an
vielen Kreuzungen an allen vier Ecken Schilder aufgehängt:
"Gehwegschäden", was eigentlich immer ein Hinweis darauf
war, daß es sich besonders lohnte hinzusehen, weil das Pflaster
interessante Spuren aufwies. Die Schäden hatte ich bis dahin
jedenfalls gar nicht bemerkt. Ich gucke immer noch gerne nach unten
und versuche, diese Zeichen zu lesen. Am U-Bahnhof Eberswalder, der
in so vielen Filmen vorkommt ("Berlin, Ecke Schönhauser",
"Das Versteck"), hat jahrelang ein Stück vom alten
rot-weißen Geländer überlebt, hinter dem schönen Reggae-Kiosk,
der bei der Neuregelung der Kreuzung für den Radweg aber mit dem
Geländer einfach verschwunden ist. Es gibt nur noch an ein paar
Stellen, wo an der Bordsteinkante blasse Reste von roter Signalfarbe
zu sehen sind. Von wann die wohl stammt? Die fünfeckigen Platten,
die rechts und links den Rand vom quadratischen Pflaster bilden,
heißen übrigens "Bischofsmützen". Sollte ich mal
Straßenpflasterer darauf ansprechen? Wer weiß, welche Geheimnisse
sie noch kennen? Im Chemnitzer Heckertviertel habe ich große,
sechseckige Waben gesehen, sind die nur dort zu finden? In Dresden, Leipzig und Halle habe ich eine längere, schmalere Form von Schweinebäuchen gesehen, womit hängt das
zusammen? Galt hier eine andere Norm? Industrienormen sind ja etwas,
was unser Leben viel stärker bestimmt als der freie Wille.
Zwischen Ost- und Westdeutschland hat man sich bei den Normen nicht
sehr weit auseinanderbewegt, die Russen hätten uns ja auch zwingen
können, bei den Gleisen ihre Spurweite zu übernehmen, die
Lichtschalter hätten per Beschluß vom Politbüro nach oben ausgehen
können, wir hätten die kyrillische Schrift einführen können wie
in der Moldawischen Sowjetrepublik. Beim Farbfernsehen hatten wir ja
das französische SECAM statt PAL, weil de Gaulle das Chrustschow
aufgeschwatzt hat und man sich mit den Franzosen generell besser
verstand (ein Beispiel für longue durée: die heutige
Farbfernseh-Weltkarte).
Auf einem kleinen Berliner Friedhof beobachtete ich einen
Gartenarbeiter, der den Rasen sprengte. Er hatte den Gully mit einem
Werkzeug geöffnet, das selbstgeschweißt aussah. Mit einem spitzen
Ende kam man unter eine Lasche im Gullydeckel, mit einem Vierkant am
anderen Ende konnte der Hahn geöffnet werden. Und es gab auch eine
praktische Öse, um das Werkzeug nach getaner Arbeit aufzuhängen.
Ich fragte ihn, wie alt das war, er wußte nichts darüber, nur daß
es der Gemeinde gehörte, für die er arbeitete. Ob das schon seit
der Weimarer Republik benutzt wurde? Mir war nie aufgefallen, daß
die Gullydeckel fast immer so eine Lasche zum Hochheben haben, ich
freute mich, daß ich jetzt das Werkzeug dazu kannte. Wie schön,
wenn ein altes Werkzeug noch seinen Zweck erfüllt. Unsere alten
Schraubenzieher mußten wir nach der Wende nicht wegwerfen, sämtliche
elektrischen Geräte konnte man einfach in westdeutsche Steckdosen
stöpseln, man konnte die Fotoapparate mit den westlichen Filmdosen
bestücken, die Plattenspieler drehten sich noch genauso schnell und man konnte auch hinter der Grenze im
Rechtsverkehr fahren. So vieles hatte sich geändert, aber so vieles
andere auch wieder nicht. Aber was sich nicht ändert, fällt einem
eben nicht so auf.
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