Es
regnet kalt und heftig, Jan führt mich zum Wassersportzentrum PCK
Schwedt e.V., und hier sehe ich wieder das große Walroß, das mir
gestern auf der Straße den Weg versperrt hat, drei Meter hoch, man
kann durch den Kopf klettern und auf seinem Rücken runterrutschen.
Es stammt aus dem Waldbad von Schwedt, das wegen des Bevölkerungsrückgangs geschlossen wurde. Ein
paar Schwedter haben sich zusammengetan und die Rettung organisiert.
Generationen von Kindern haben dieses Walroß geliebt, bzw., wie Jan
sagt, sich beim Runterrutschen die Badehose aufgerissen. Ich stoße
immer wieder auf solche Rettungsaktionen von Dingen aus der Kindheit.
In Neubrandenburg will eine Gruppe einen alten Spielplatz-Betonelefanten, der auf einem Betriebshof verrottete,
wieder aufbauen und aufstellen lassen. In Frankfurt/Oder versuchen
Studenten, das schöne Lichtspieltheater der Jugend wieder zu
eröffnen. Vielleicht wird ja auch irgendwann die längste
Fußgängerbrücke Europas vom S-Bahnhof Storkower Straße zum
Forckenbeckplatz wiedererrichtet, deren Abriß im Jahr 2006 mir einen Kindheitsort
geraubt hat. Man hätte lediglich ein Jahr lang das Berliner Ensemble
schließen müssen, das Geld hätte genau zur Renovierung
ausgereicht.
Jan
telefoniert und überrascht mich mit der Nachricht, daß wir uns das
PCK angucken können, er kennt die PR-Chefin von einem Pleinair, an
dem er teilgenommen hat. Das im Osten seltene und erhebende Gefühl,
vor einem Werkstor zu stehen, hinter dem sich keine Industrieruinen
befinden. Richtige Arbeiter kommen uns entgegen, man möchte jeden
ausfragen, was er heute gemacht hat. Obwohl von 8000 nur 400 geblieben sind,
die man noch braucht. Immerhin ist für das Werk mal die Stadt gebaut
worden. Wir füllen einen Passierschein aus und betreten das schöne,
helle und sachliche Verwaltungsgebäude. Das alte Treppengeländer
ist durch einen höher liegenden, verchromten Handlauf ergänzt
worden, weil die Norm sich verändert hat, jetzt sind es 90cm, die
Menschen sind größer geworden seit der Wende. Auf jeder Etage
hängen Gemälde, die früher vom Kombinat in Auftrag gegeben und
gesammelt worden sind. Viele Künstler waren offenbar genauso
fasziniert wie ich von den verwirrend verschlungenen Rohr- und
Kesselanlagen. Man denkt ja immer, man könnte deren Funktion durch
intensives Anstarren ergründen. "Landschaft der Erdölleitung
Freundschaft", "Junge Familie – Kraft der
Arbeiterklasse", "Porträt eines Anlagenfahrers" wären
heute ungewöhnliche Sujets. Bei "Winterlandschaft" von
Eberhard Hückstädt hängt nur noch das Schild, aber die weiße
Rauhfasertapete macht ihre Sache als Ersatz ganz gut. Im Archivraum
sind noch mehr Gemälde eingelagert, immerhin sind sie aufgehoben
worden, viel ist ja nach der Wende auf dem Müll gelandet. Was malen
Künstler heute? Damals sollte die Kunst die Arbeit thematisieren,
aber wirklicher Realismus war gar nicht gefragt, sonst hätten die
Bilder anders ausgesehen. Chemie wurde als Zukunftsversprechen zur
Magie überhöht. Max
Zimmering dichtete: "Lob
der Chemie – Jedoch es weiß auch jedermann, daß man Chemie
mißbrauchen kann, zum Gift- und Napalmdestillieren, um gegen Kinder
Krieg zu führen. Nur dort, wo sie dem Volk gehört, den Menschen,
die den Frieden schützen, und die Chemie nach Kräften nützen, zu
überwinden Mangel, Not, hervorzubringen Kleidung, Brot, und Freude,
Glück an jedem Ort – Chemie – Chemie! Welch Zauberwort!"
Wir
machen eine Rundfahrt mit einem Kleinbus über das Werksgelände und
bekommen die Anlagen erklärt. "Entschwefelung von schweren
Rückständen", "Katalytischer Cracker",
"Leichtbenzinverätherung", "High Conversion Soaker Cracker". Ich könnte mich ewig in diese faszinierenden
Rohrlanschaften vertiefen, die aussehen, wie von den Doozers errichtet, diesen kleinen, grünen Bauarbeitern, die die Arbeit lieben und in den Höhlen
der Fraggles immer Gerüste bauen, die den Fraggles als Snack dienen. Ich bezweifle, daß noch irgendwer durchschaut, was hier
jede Leitung für eine Funktion hat. Programmierer bauen ja immer
Kleinigkeiten in die Software ein, die nur sie kennen, um sich bei
Entlassungen rächen zu können. Vielleicht gibt es hier ja noch aus
Ostzeiten geheime Leitungen, deren Funktion niemand mehr kennt?
Rohre, in denen damals Kaffee aus der Kantine an den Arbeitsplatz
floß? Oder sogar Bier? Eine Rohrpostanlage, um die so seltenen
privaten Telefone zu ersetzen? Und wegen der Entlassungen nach der
Wende hat sich das Wissen um dieses Kommunikationssystem verloren?
Auffällig
ist, daß wir keinen Menschen begegnen. Wir hätten uns vorgestellt,
daß an so gewaltigen Anlagen ständig irgendwer schraubt, hämmert und nachbessert, wenigstens zur Dekoration. Selbst an dem bunt gekachelten,
original DDR-Bushäuschen,
das hier auf dem Werksgelände überlebt hat, wartet niemand.
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