Jeder
Gang über den Alexanderplatz ist ein Abschiedsbesuch, seit der Wende
wird über neue Wolkenkratzer geredet, also vor allem Abriß. Sogar
das Haus des Reisens soll ja fallen. Die Dimensionen der Straßen und
Gebäude seien unmenschlich, man spüre sibirische Winde pfeifen, die
"sozialistische Einschüchterungsarchitektur" muß dringend
auf traditionelle Blockrandbebauung umgestellt werden. Die
ästhetischen Argumente sind für mich reine Folklore, man könnte ja
darüber diskutieren, aber in Wirklichkeit geht es um finanzielle
Interessen. Das Haus links im Bild gilt ja der BZ als größter
Schandfleck von Berlin. Wenn das so ist, wünsche ich mir mehr
Schandflecken, denn natürlich ist es nicht sehr ansehnlich, aber
wieviele andere Häuser in Deutschland sind das ebenfalls nicht? Ich
habe mich daran gewöhnt, und daß es heute so nicht mehr gebaut
würde, macht es für mich interessant. Da es im Osten keine
wirkliche Öffentlichkeit gab, haben Gerüchte immer eine große
Rolle gespielt, auf diesem Gebiet hatte das Volk Phantasie. Beim Haus links gab es das Gerücht, daß in der
einzigen Wohnung mit Fenster Honeckers Tochter wohnte, was natürlich
nicht stimmt, da sie ja in der Leipziger Straße wohnte, das Fenster
hat rein bautechnische Gründe. Reicht so eine Geschichte, um das
Haus unter Denkmalschutz zu stellen? Rechts daneben das ehemalige
Presse-Café, heute "Escados". Es hatte einen Wandfries von
Willy Neubert, der inzwischen in Thale, wo er vor seiner Zeit als
Künstler in den Eisen- und Hüttenwerken gearbeitet hat, wieder
geschätzt wird. Ich werde nie verstehen, wie umstandslos man
sozialistische Propagandakunst gegen kapitalistische Propagandakunst
(Werbung) ersetzt hat. Über ein Bild können sich die Menschen
wahnsinnig aufregen ("Dafür hamse Jeld!"), aber daß der
gesamte öffentliche Raum von Werbung besetzt ist, gilt als völlig
normal. Der Emaille-Fries wurde übrigens nicht abgenommen und ist
unter der Verkleidung noch vorhanden. Vielleicht nur eine listige Form von
Konservierung.
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen